› 23 ‹ Abhängig vom Rang der Familie, in die sie hineingeboren wurden, waren Adelskinder unter dynastischen und damit politischen Gesichtspunkten Landesfürsten und Familienoberhäupter im Wartestand oder in Reserve, Glieder einer Erbfolge und heiratspolitische Verfügungsmasse. Als ein im Kern »bürgerliches Phänomen« dagegen beschrieb Philippe Ariès in seiner breit rezipierten Geschichte der Kindheit eine Aufwertung der Kindheit im Laufe der Frühen Neuzeit, die einen grundsätzlichen Wandel des Kinderbildnisses nach sich gezogen habe.8 Darstellungen von Kindern als »erwachsene Menschen von kleinerem Wuchs« seien abgelöst worden durch das Abbilden des Kindes »um seinetwillen«, es wäre der auf die volljährige Zukunft eines Kindes gerichtete Blick ersetzt worden durch eine Sicht, in der es im Sinne Rousseaus bereits in seiner kindlichen Gegenwärtigkeit bildwürdig war.9 Dieser »Entdeckung der Kindheit«, wie Ariès sein Kapitel über Porträts von Kindern benannte, müsste das dynastische Kinderbildnis ein erhebliches Beharrungsvermögen entgegengesetzt haben zugunsten der älteren Repräsentationskultur, die im Porträt künftiger Fürsten gerade das vorführen sollte, was im dynastischen Zusammenhang wirklich zählte, nämlich Stand und Rang in der Welt der Erwachsenen, nicht kindliche Persönlichkeit.10 Legte nicht die Genealogie allein fest, welchen Rang und welche Rolle das Kind einer Herrscherfamilie als Erwachsener einnehmen würde, war deshalb nicht alles nur »bildlich antizipiert« in Vorwegnahme der erwachsenen Person?11 Abb. 1 Jens Juel Friedrich Emil August von Schleswig-Holstein- Sonderburg-Augustenburg um 1802 · Leinwand Kunsthalle zu Kiel Doch blieb im dynastischen Kinderbildnis neben allen unübersehbaren Hinweisen auf die zukünftige Stellung und sich daraus ergebender, vorauseilend erfüllter Verhaltensnormen immer ein Residuum an kindlicher Gegenwart, das es mit den Kinderporträts bürgerlicher Eliten teilte. Auch der Wert eines Adelssprosses bemaß sich nicht an seiner Zukunft allein, denn letztlich erfüllte schon das Kind, wie es war, innerhalb einer Erbfolge die beinahe gleiche Funktion wie der Erwachsene, der es einmal sein würde – der Anspruch auf einen Thron etwa hing von der Existenz eines Thronfolgers ab, nicht von dessen Alter. Erbprinz war der älteste Sohn eines Fürsten, ohne in diese Rolle erst hineinwachsen zu müssen, und selbst König konnte er werden, ohne volljährig zu sein. Tatsächlich herrschte bei höfischen Bestellern und solchen des Adels früh schon eine Aufgeschlossenheit für Darstellungen einer Kindlichkeit, die im politisch-dynastischen Zusammenhang streng genommen keinen Zweck erfüllte. Sie war ein Überschuss, der sich vielleicht gerade daraus ergab, dass das Kind im Koordinatensystem der Genealogie qua Geburt bereits einen Wert besaß: Die Kindheit kleiner Prinzen und ihrer Geschwister war mehr als bloße Anwartschaft auf das Erwachsensein. 8 Ariès 1975, S. 562. 9 Ebd., S. 93, 103. 10 Ebd., S. 92. 11 Bellin 2022, S. 33.
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