› 24 ‹ Entdeckung Entstammen Holzpferd, Trommel und Gerte einer etablierten Ikonografie prinzlichen Nachwuchses (Abb. 3; 1, 18), der mit gewisser Wahrscheinlichkeit tatsächlich Zeit beim Militär vor sich hatte, so findet sich Spielzeug dieser Art um 1800 längst auch in den Bildnissen von Bürgersöhnen, deren Eltern sich zivilere Karrieren für ihre Kinder wünschten und solche zumeist auch erlebten.15 Auffällig ist vielmehr, dass in Juels Porträt einzig das Monogramm auf der Trommel auf die Zugehörigkeit zur Herrscherfamilie verweist, auch wenn zur Entstehungszeit nicht abzusehen war, dass dieser Königsenkel später (vergebens) Anspruch auf den dänischen Thron erheben würde. Ist diese ikonografische Zurückhaltung nur eines der Ergebnisse des Wandels hin zur (von Erwachsenen, nicht von Kindern definierten) »Natürlichkeit«, der sich für Kinderporträts ganz allgemein feststellen lässt, so steht Juels Porträt des Augustenburger Prinzen für den Abschluss einer Entwicklung, die seit ihrer Beschreibung als einer »Entdeckung der Kindheit« durch Ariès bereits das Thema mehrerer Ausstellungen gewesen ist. Allerdings beschrieben die jeweiligen Kuratoren und der französische Historiker nicht den gleichen Wandel, sprachen nicht von der gleichen Entdeckung und streng genommen nicht einmal von der gleichen Kindheit. Der Erfolg der Geschichte der Kindheit steht in bemerkenswertem, doch nicht immer bemerkten Missverhältnis zur Plausibilität selbst ihrer Hauptthesen. Für Ariès bedurfte dieser Wandel der Überwindung jener angeblich mittelalterlichen, von Mediävisten indessen vehement bestrittenen »Indifferenz gegenüber dem Kind«, als die er das jahrhundertelange Fehlen autonomer Bildnisse von Kindern interpretierte – dass bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts auch keine solchen von Erwachsenen bekannt sind, reflektierte er dagegen nicht.16 Zweifel an den Kriterien, nach denen Ariès Texte wie Bilder beurteilte, musste auch die chronologische Großzügigkeit wecken, mit der er die »moderne Familie« irgendwann zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert diesen Wandel ins Werk setzen ließ, da sie sich um ihre Kinder herum arrangiert, emotionales Kapital in sie investiert und sie entsprechend habe malen lassen.17 Wenn die erst zu entdeckende Kindheit bei Ariès zugleich als etwas begegnet, das es doch immer gegeben hatte, nur anders und kürzer, nämlich abgeschlossen »mit etwa sieben Jahren«, dann griff er selektiv auf die Einteilung der frühen Lebensalter zurück, die im Mittelalter aus der spätantiken Überlieferung bekannt war.18 Kindheit setzte Ariès gleich mit der infantia, dem Säuglings- und Kleinkindalter als der nur ersten von drei frühen Lebensphasen. Ob dieser bereits der Übergang in die Welt der Erwachsenen folgte, wie Ariès ihn postulierte, ist jedoch eine Frage der Interpretation: Immerhin folgten in diesem Schema die sieben Knaben- und Mädchenjahre der pueritia, die günstigstenfalls auch Schuljahre 12 Siehe Poulsen 1991, Bd. 1, S. 231, Kat.-Nr. 878; Ausst.-Kat. Oldenburg 2013, S. 68, Kat.-Nr. 21 (Julia Ettinghaus). 13 Rückseitig bez. »Karoline Amalie f 28 Juni 1796 d. 1861«; siehe Poulsen 1991, Bd. 1, S. 230f., Kat.-Nr. 877, Bd. 2, S. 545, Abb. 14 Rousseau 1963, S. 46. 15 Man vergleiche etwa Francesco de Goyas um 1810 gemaltes Bildnis des Arztsohnes José Costa y Bonells vor seiner Trommel und einem zum »Reiten« geeigneten Holzpferd auf Rollen (The Metropolitan Museum, New York, Inv.-Nr. 61.259); siehe Liedtke 1989, S. 320, Kat.- Nr. 208, Abb. 16 Ariès 1975, S. 51. Für eine detaillierte, doch längst nicht erschöpfende Kritik der Thesen von Ariès siehe Pollock 1983, S. 1–67. 17 Ariès 1975, S. 51, 534. 18 Ebd., S. 559. Wie sehr die positive Wahrnehmung der Kindheit am Ausgang des Jahrhunderts Rousseaus auch solche Kinderbildnisse prägte, die Familien der bedeutenden und weniger bedeutenden Herrscherhäuser Europas in Auftrag gaben, vermag Jens Juels Porträt des etwa zweijährigen Friedrich Emil August von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Abb. 1) zu veranschaulichen.12 Das blonde, auf einem kostbaren Teppich sitzende Kleinkind, das sein Spiel unterbricht, um den Blick des Betrachters zu suchen und ihm eine ungelenke Hand entgegenzurecken, ist ein Enkel König Christians VII. von Dänemark. Das Kind trägt die leichte, klassizistische Form eines in den ersten Lebensjahren für Mädchen wie für Jungen üblichen Kinderkleides, dazu weiße Strümpfe und grüne Schuhe. Bezeichnenderweise galt Juels dazugehörige Studie nur des geneigten Kopfes des kleinen Prinzen lange Zeit als ein Porträt seiner Schwester, immerhin einer zukünftigen dänischen Königsgattin, doch die Trommel, die Reitgerte und das umgekippte Holzpferd auf Rädern sprechen deutlich genug für einen Jungen.13 Der durchdachten Komposition zum Trotz, in welcher der Körper des schräg hingelagerten Kindes eine Diagonale bildet, die sich mit den parallelen Diagonalen seiner Arme und der auf der Trommel aufliegenden Reitgerte überkreuzt, wirkt nichts im Bild gestellt – vielmehr dient schon die Wahl des ungewöhnlichen Querformats der Suggestion kindlicher Ungezwungenheit. Statt den Betrachter auf das sitzende Kind herunterblicken zu lassen, weist Juel ihm einen Platz auf Augenhöhe zu, als würde man selbst auf dem Teppich hocken. Die unbeholfen ausgestreckte Hand schließlich findet sich in einer Passage Rousseaus in ihrem gestischen Doppelcharakter beschrieben: Eine solche Geste wirke, bezogen auf einen Gegenstand außer Reichweite, als wollte das Kind »dem Gegenstand befehlen, näher zu kommen, oder als ob es uns auffordere, ihn heranzubringen«.14 Nach dem gleichen Prinzip gelten Befehl und Aufforderung im Bildnis des Enkels des dänischen Königs zweifellos dem Betrachter. der Kindheit
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