› 27 ‹ 23 Ariès 1975, S. 98. 24 Weber-Kellermann 1981, S. 56. Wilhelmine behielt ihre Erzieherin zu ihrem Leidwesen bis ins zwölfte Lebensjahr. 25 Ariès 1990, S. 111. 26 Siehe Unger 1979, S. 65–74; Ausst.-Kat. Berkeley/Memphis/ Omaha 1995, S. 81f.; Bedaux 2000, S. 11–12; Postle 2005, S. 8f.; Neumeister 2007, S. 14; Klaasen 2013, S. 16; Fabian 2016, S. 199f. 27 Aries 1975, S. 102. Vgl. Kemperdick 2006, S. 19. 28 Ariès 1975, S. 103. 29 Siehe Ausst.-Kat. Berkeley/ Memphis/Omaha 1995, S. 20; Neumeister 2007, S. 13; Klaasen 2013, S. 16. Speziell zur bis ins Dessauer Philantropin reichenden Rezeption Lockes siehe Overhoff/Schmitt 2007. 30 Ariès 1975, S. 562. Zum politischen Hintergrund siehe z. B. Ariès 1990, S. 110. spielzeug gestikuliert und von der Schwester mit der Hand auf der seinen beschwichtigt wird (vergebens, wie man weiß). Vielleicht trogen Wilhelmine ihre Erinnerungen, was den späten Zeitpunkt ihres Kleiderwechsels angeht, doch ist ihr Bildnis im Hofkleid wie jedes Porträt eine Inszenierung und keine Momentaufnahme. Während Ariès in der Geschichte der Kindheit dazu neigte, Kinderbildnisse für Fenster in eine unverzerrte historische Realität dahinter zu halten, scheint genau dies ausgeschlossen. Drückt sich die Wertschätzung für die Kindheit nach Ariès aus im »Porträt eines realen Kindes, wie es in einem bestimmten Augenblick seines Lebens gewesen ist«, so wäre daran zu erinnern, dass ein Gemälde kein Spiegel ist und nicht einfach etwas wiedergibt, sondern dass es seine Entstehung lauter künstlerischen Entscheidungen verdankt – getroffen auf Anweisung oder zumindest mit Zustimmung des jeweiligen Bestellers, zumeist der Eltern, und sich, ob affirmativ oder nicht, gegenüber künstlerischen Mustern und Konventionen verhaltend.23 Dass die kleine Wilhelmine von Preußen, um bei diesen Beispiel zu bleiben, zeitweise tatsächlich mit dem Hermelinmantel vor dem Maler stand, den sie im Doppelporträt von Pesne um ihre Schultern gelegt hat, ist zumindest denkbar; wahrscheinlicher ist, dass das Accessoire ihm gesondert überstellt wurde und er es in Abwesenheit der Porträtierten malte. Ausgeschlossen aber ist, dass die preußische Prinzessin ihre Kindheit mit diesem Hermelinmantel angetan verbrachte, womöglich noch im Sommer, den im Doppelbildnis der vom Bedienten gehaltene Sonnenschirm ebenso evoziert wie ihr Korb mit Blumen. Ähnliches gilt für Ordensstern und Schärpe ihres kleinen Bruders, enthielt doch jedes Ordensreglement Vorschriften, was zu welchen Gelegenheiten anzulegen war – und der höfische Alltag gehörte nicht dazu. Kindlichkeit Die von Ariès konstatierte Seltenheit autonomer Porträts von Kindern bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts immerhin ist real.27 Während er aber nicht nur deren bald anschwellende Zahl registrierte, die auch die Ausstellung spiegelt, und sie als die »große Neuerung des 17. Jahrhunderts« hervorhob, sah Ariès den Wandel zur neuen Wertschätzung der Kindheit mit diesem Anstieg bereits vollzogen.28 Die Kunstgeschichte hingegen datiert diese Veränderung üblicherweise erst ins 18. Jahrhundert und deutet sie wahlweise als Ergebnis der rationalistischen Pädagogik John Lockes, dessen Thoughts Concerning Education von 1693 in den nächsten Jahrzehnten europaweit rezipiert wurden, als Folge des eine ganz andere Richtung einschlagenden Émile Rousseaus von 1762 oder der dazwischen liegenden Aufklärung ganz allgemein.29 Alles dies spielt bei Ariès keine Rolle, und nicht immer ist die Pointe bemerkt worden, dass der erklärte Antimodernist aus der royalistischen Rechten Frankreichs die Anerkennung der Kindheit auch gar nicht für eine Errungenschaft hielt. Für Ariès war sie vielmehr das bedauerliche Ergebnis des Rückzugs eines egoistischen Bürgertums aus der vermeintlichen Idylle standesübergreifenden Austauschs, als die er die französische Monarchie vor 1789 verklärte.30 und Herrschaft Um die prinzipielle Inszeniertheit von Bildnissen zu verstehen, muss man keinem Hofmaler des 18. Jahrhunderts gesessen haben. Wer Kinderfotos von sich besitzt, die im Studio eines professionellen Fotografen aufgenommenen wurden, der weiß sehr gut, wie viel oder wenig solche Porträts über das Dasein eines Kindes verraten: Gegen solche Bildevidenz wurde die Kindheit keinesfalls in Lackschuhen und dem besten Kleid oder mit Jackett, Fliege und einem so akkurat nie wieder gesehenen Seitenscheitel verbracht. Was die kleine Wilhelmine von Preußen betrifft, so bildete der vermutlich graduelle, ostentativ mit dem Sonntagsstaat beginnende Wechsel der Kleider ohnehin nur den Abschluss der ersten Lebensphase, der nun die Knaben- und Mädchenjahre folgten, nicht das Erwachsensein. Jungen, die bei Hof aufwuchsen, würden im gleichen Zug aus dem weiblich geprägten Haushalt der Mutter in den des Vaters wechseln und männliche »Gouverneure« (Erzieher) ganz so an die Seite gestellt bekommen, wie Wilhelmine es für ihren Bruder Friedrich beschrieb, als dieser »in sein siebtes Jahr getreten war«.24 Doch ließen sich solche Weichenstellungen in Porträts schlechter veranschaulichen als ein Wechsel der Kleidung. So kam trotz oder wegen der Gutgläubigkeit, mit der Ariès ohne Bedenken von Medium, Kontext, Konventionen und Adressaten in Bildnissen nur das »ikonographische Dokument« sah,25 bis heute keine Ausstellung von Kinderbildnissen umhin, sich zur Geschichte der Kindheit und ihren Thesen zu positionieren – ob in Form ausführlicher Widerlegung, mit Spott, durch vorsichtige Zustimmung oder Distanzierung.26
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