› 100 ‹ Das ungewöhnlich schmale Hochformat zeigt zwei Mädchen, die sich einander zugewandt in der freien Landschaft niedergelassen haben. Das rechts im Vordergrund kniende Mädchen im sandfarbenen Kleid balanciert einen Korb mit Blumen auf seinem linken Bein und überreicht ihrer Begleiterin eine üppig blühende Rose. Diese nimmt die Blume in gezierter Handhaltung entgegen, wendet ihren Blick aber nicht auf das empfangene Geschenk, sondern in freundlicher Vertrautheit aus dem Bild heraus zum Betrachter. Der Ort des Geschehens ist eindeutig zu bestimmen. Im Hintergrund wird über der Dessauer Muldbrücke ein Abschnitt der Fassade des von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699–1753) entworfenen Ostflügels des Residenzschlosses mit seinen charakteristischen großflächigen Schiebefenstern sichtbar. Dort im Schloss ist das Gemälde auch erstmals 1923 mit dem Titel Zwei Prinzessinnen von Anhalt nachweisbar.1 Bereits 1927 befand es sich in der Dauerausstellung der Anhaltischen Gemäldegalerie, versehen mit dem inzwischen präziseren Titel Prinzessin Amalie Auguste (1793–1854) und Luise Friederike (1798–1858) von Anhalt-Dessau als Kinder mit Blumen.2 Diese Benennung der beiden dargestellten Mädchen lässt sich jedoch nicht mit der links unten auf der Bildfläche lesbaren Bezeichnung F. Tischbein 1797 vereinbaren, welche in ihrer Form ganz mit den sonst von Tischbein angebrachten Signaturen und Datierungen übereinstimmt. Denn 1797 wäre die jüngere der beiden Prinzessinnen noch nicht einmal geboren. Die ältere der beiden, Amalia Augusta, kennen wir aus anderen Porträts Tischbeins sehr gut ( 13, 18), welche mit keinem der beiden Mädchen Ähnlichkeit zeigen. Da damals kein Überfluss an Prinzessinnen von Anhalt-Dessau existierte3, erscheint der Vorschlag Martin Frankes überzeugender, die Identifizierung der dargestellten Mädchen mit den anhaltischen Prinzessinnen aufzugeben und in ihnen die Töchter des Malers zu erkennen. Insbesondere in dem vorderen Mädchen ließe sich gut die damals etwa zehnjährige Elisabeth (Betty) Tischbein vermuten (1787–1867), die ihr Vater 1804 in sehr ähnlicher Profilansicht festgehalten hat.4 Auch in einem 1796 für Prinz Johann Georg von Anhalt-Dessau (1748–1811) angefertigten Familienbild des Künstlers erscheinen beide Töchter (Abb. 1).5 Caroline (1783–1842), die ältere der beiden, wirkt hier jedoch entwickelter als das hintere Mädchen auf dem ein Jahr später entstandenen Dessauer Porträt, weshalb diese Identifizierung zu hinterfragen wäre. Ungewöhnlich erscheint es aber nicht, dass Tischbein in dieser Zeit Angehörige seiner eigenen Familie ins Bild setzte, entstanden doch seine beiden großen Familienbilder jeweils am Anfang und am Ende seiner Zeit in Dessau: das schon erwähnte Bild für Prinz Johann Georg wurde 1796 fertigstellt; das sich heute im Leipziger Museum befindliche Familienbild, welches den 1797 geborenen Sohn Carl Wilhelm einschloss, wurde 1800 vollendet, als die Familie inzwischen nach Leipzig gezogen war (Abb. 6 auf S. 15). »Ein behagliches Stilleben genossen wir gerade besonders während der Jahre, die wir in Dessau zubrachten«, erinnert sich Jahrzehnte später Caroline, »unvergesslich sind mir diese freundlichen Abende geblieben. Die Eltern gingen nur selten in 1 Stoll 1923, S. 183. Die angegebenen Maße (70 × 110 cm) sind widersprüchlich, aber die herzogliche Inv.-Nr. 2363 identifiziert das Gemälde eindeutig. 2 Kat. Dessau 1927, S. 57, Gal.- Nr. 220, mit der Maßangabe 120 × 71 cm und der alten herzoglichen Inv.-Nr. 2363. 3 Der Fürst besaß nur einen legitimen Sohn, seine Brüder keine legitimen Kinder. Kleine Prinzessinnen von Anhalt-Dessau waren damals also nur Amalia Augusta und Luise Friederike, die Töchter des Erbprinzen. 4 Die Künstler Töchter als Personifikationen von Schauspiel und Musik, Kunsthistorisches Museum Wien. 5 Porträt des Künstlers und seiner Familie, Franke 1993, Bd. 2, S. 474, WV 463. Das Bild befand sich lange im Museum der bildenden Künste Leipzig und ist seit 2014 im Eigentum des Fürsten von und zu Liechtenstein (Inv.-Nr. GE 2505). Johann Friedrich August Tischbein Zwei Mädchen an der Dessauer Muldbrücke (die Töchter des Malers?) 1797 Leinwand · 122 × 72,5 cm Bez. F. Tischbein 1797 (links unten) Rückseite bez. 75 restau. Normann Anhaltische Gemäldegalerie Dessau Gal.-Nr. 220 Provenienz: 1875 in herzoglichem Besitz; 1923 Residenzschloss Dessau, 3. Stock, Zimmer 114, Inv.-Nr. 2363; 1927 Anhaltische Gemäldegalerie Dessau, Palais Reina Literatur: Stoll 1923, S. 183; Kat. Dessau 1927, S. 57, Gal.-Nr. 220; Franke 1987, S. 95; Franke 1992, Bd. 1, S. 111, Bd. 2, S. 476f., WZ 464 16
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