Leseprobe

› 126 ‹ Tischbeins Dreiviertelporträt der Anne Pauline Dufour-Feronce (1774–1839) mit ihrem Sohn Jean Marc Albert (1798–1861) besitzt sein Gegenstück im Bildnis ihres Gatten Jacques Ferdinand mit der neun Jahre alten Tochter Constance Aimée (Abb. 1).1 Dank dieses Pendants ist das ursprüngliche Format bekannt: Das Porträt hatte auch sie in ganzer Figur gezeigt, doch die Leinwand ist in den Jahrzehnten nach 1809 oben und unten um insgesamt 68 Zentimeter beschnitten worden, an den Seiten um 14 Zentimeter. Beide Ehepartner stammten aus in Leipzig etablierten Hugenotten- und Kaufmannsfamilien. Jacques Ferdinand Dufour-Feronce arbeitete seit dem Jahr ihrer Eheschließung 1792 im Seidengroßhandel der Familie, trat nach dessen Tod 1805 als Teilhaber in das Unternehmen ein und wurde 1816 in den Adelsstand erhoben. Der sich im Bildnis der Mutter an sie schmiegende Jean Marc Albert Dufour trat nach dem Tod seines Vaters 1817 dessen Nachfolge an, investierte ab 1835 zusätzlich in den Eisenbahnbau und war schließlich in erster Linie als Bankier tätig. Während Tischbeins Bildnis Jacques Ferdinand Dufour-Feronces den Kaufmann in Stiefeln und gelber Hirschlederhose unter einem Baum sitzend in der kulissenhaft wirkenden Natur präsentiert, ist seiner Frau die häusliche Sphäre zugewiesen. Anne Pauline Dufour-Feronce sitzt in einem zurückhaltend dekorierten, doch ausweislich der angeschnittenen Statue rechts imposant dimensionierten Interieur, in dem der Arbeitsbeutel auf dem Nähtisch und die florale Stickarbeit im Rahmen daneben auf die häusliche Tugend weiblichen Fleißes weisen. So wenig die generische Landschaft im Pendant den Landsitz der Familie im damals vor der Stadt liegenden Connewitz wiedergibt,2 so wenig lässt sich die anzunehmende Deckenhöhe mit dem 1794 von der Familie erworbenen Romanushaus vereinbaren, einem der prachtvollsten barocken Wohnbauten Leipzigs. Die Mittzwanzigerin trägt ein schlichtes weißes Musselinkleid mit kurzen Ärmeln, ein sogenanntes chemise à l’enfant, und hat ihre dunklen Locken à la grecque in die Stirn gelegt. Den vierjährigen Jean Marc Albert, der die Arme zärtlich um sie geschlungen und den Kopf auf ihre Schuler gelegt hat, hält sie auf ihrem Schoß. Aus solcher Innigkeit blicken Mutter und Sohn ganz so auf den Betrachter, wie der Vater und die ältere Schwester im Gegenstück. Die Zuordnung von Sohn und Tochter zu Mutter und Vater, die in den beiden Bildnissen gerade nicht dem hergebrachten Muster nach außen gewandter männlicher Tätigkeit und weiblicher Häuslichkeit folgt, dem Tischbein für die Eltern treu blieb, dürfte sich zwar aus dem Altersunterschied und dem entsprechend unterschiedlichen Aktionsradius der Kinder ergeben haben, entspricht jedoch auch dem empfindsameren Ideal nicht nur von Mutter-, sondern auch von Vaterschaft.3 Während Constance Aimée im Pendant ein weißes Musselinkleid analog zu dem der Mutter trägt, führt ihr Bruder einen moosgrünen, Jungen vorbehaltenen Hosenanzug mit Latz und kurzer Jacke vor, wie er als skeleton suit zuerst in England aufgekommen war. 1 Siehe Kat. Kassel 2003, S. 198– 200, Kat.-Nr. 172. 2 Siehe Ausst.-Kat. Kassel/Leipzig 2005, S. 194, unter Kat.-Nr. 63 (Richard Hüttel). 3 Siehe zuletzt Lange 2020, S. 37. Johann Friedrich August Tischbein Anne Pauline Dufour-Feronce mit ihrem Sohn Jean Marc Albert 1802 Leinwand, doubliert 125 × 106 cm (beschnitten) Hessen Kassel Heritage, Gemäldegalerie Alte Meister Inv.-Nr. GK 956 Provenienz: Erworben 1958 von Marc Dufour-Feronce, Berlin-Zehlendorf Literatur: Kat. Kassel 2003, S. 196–198, Kat.-Nr. 171 24

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1