Leseprobe

› 10 ‹ Kindsköpfe in Dessau Zwei blonde Knaben, stolz ihr Pferd präsentierend, eröffnen und beschließen unsere Ausstellung (Abb. 1 und 2). Beide erscheinen in ganzer Figur, in ein langes Gewand gehüllt und sind zum Betrachter gedreht. Eine Hand umklammert die Reitpeitsche, die andere hält die Zügel oder ist auf dem Kopf des kleinen Reittiers abgelegt. So ähnlich sich die beiden Bilder in Inhalt und Komposition auch geben, zwischen ihnen liegen mehr als zwei Jahrhunderte. Jahrhunderte, die heute gern für einen einschneidenden Wandel in der Vorstellung von Kindheit verantwortlich gemacht werden, der mit dem unwiderstehlich griffigen Motto der »Entdeckung der Kindheit« bezeichnet wird. Erstmals habe man diese als eigenständige, gegenüber dem Erwachsenendasein abgegrenzte Lebensphase mit eigenen Ansprüchen erkannt und heranwachsende Kinder nicht mehr mit den Maßstäben der Erwachsenenwelt gemessen. Formuliert wurde das Schlagwort der entdeckten Kindheit durch eine Kapitelüberschrift in Philippe Ariès’ Buch L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime von 1960,1 welches alle historischen, volkskundlichen und kulturwissenschaftlichen Ruben Rebmann Abb. 1 Niederländisch (?) Bildnis eines unbekannten Jungen mit Pferd um 1615–1620 · Holz Anhaltische Gemäldegalerie Dessau ( 1) 1 Das Buch erschien in englischer Übersetzung erstmals 1962 als Centuries of Childhood. A Social History of Family Life und in deutscher Übersetzung erstmals 1975 als Geschichte der Kindheit, Ariès 1975.

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