Leseprobe

I 10 Einleitung waren. In ihnen lassen sich nationalistische Agitation und Identifikation beobachten, die wesentlicher Teil der Gewaltspirale des 20. Jahrhunderts wurden, aber auch Indifferenz und Mehrfachzugehörigkeit. In Galizien lebten zahlreiche Judenheiten, und das Kronland wurde in besonderem Maße durch ein polnisch-jüdisch-ukrainisches Dreieck geprägt, wie John Himka das einmal nannte.22 Deutschsprachige Personen spielten eine untergeordnete Rolle.23 In Oberschlesien bestand andersherum ein gewisser deutsch-polnischer Antagonismus, während die dortigen Judenheiten sich vor allem an die Gruppe der deutschsprachigen Oberschicht anpassten. Die Regionen weisen aber nicht nur diese strukturelle Ähnlichkeit auf. Sie waren auch Teil eines europäischen Verkehrs- und Wirtschaftsraums, in dem Menschen und Medien migrierten. Zu beiden Regionen und den Beziehungen zwischen ethnischen und sprachlichen Gruppen im 19. und 20. Jahrhundert ist aufgrund der massiven politischen Erschütterungen bereits viel gearbeitet worden. Über politische Haltungen, nationalistische Agitation und wechselseitige Wahrnehmung haben wir in den letzten Jahrzehnten aus zahlreichen Büchern und Aufsätzen lernen können.24 Doch zu den tatsächlichen Bildern, den visuellen Codes dieser Nachbarschaftsimaginationen, wissen wir deutlich weniger. Ryszard Kaczmarek und Remigiusz Lis haben einen ersten Beitrag zur Darstellung der oberschlesischen Bevölkerung auf Bildpostkarten veröffentlicht, in dem sie zudem die Landschaft der Druckereien und Verlage vorstellten.25 Maren Röger hat zu Galizien im Vergleich zur Bukowina gearbeitet, und auf bereits bestehende Literatur zu Darstellungen der Judenheiten zurückgreifen können. Es existieren zudem reich bebilderte Publikationen, in denen Postkartensammlungen aus oberschlesischen Museen vorgestellt werden, doch eine Analyse des präsentierten Bildmaterials bleibt zumeist aus.26 Unser Buch ist keine flächendeckende Untersuchung der deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungen in Oberschlesien und Galizien im benannten Zeitraum, sondern bietet Streifzüge an. Besonders anspruchsvoll ist beim Schreiben über ein Gebiet, das über lange Zeit Borderland war und blieb, die Wahl historischer Ortsbezeichnungen. Gerade die in Folge des Ersten Weltkriegs stattgefundenen Grenzverschiebungen in dieser Gegend erschweren die Wahl passender Ortsnamen, zumal neben den offiziellen Verwaltungssprachen des Deutschen Reiches, des Russländischen Reiches, Österreich-Ungarns und der 1918 entstandenen Zweiten Polnischen Republik mitunter weitere Ortsbezeichnungen in den örtlichen Dialekten wie z. B. Schlesisch oder Slonsakisch existierten. Um die Orientierung zu erleichtern, wurden in diesem Buch die damaligen offiziellen Verwaltungsbegriffe in den jeweiligen Amtssprachen genutzt, wenngleich in den Verwaltungssprachen die jeweiligen imperialen Überformungen und Sprachpolitiken nachhallen. Zusätzlich geben wir bei der ersten Nennung den heutigen Namen des Ortes an, um die Orientierung zu erleichtern.27 Aufbau, Material und Grenzen Unser Buch beginnt im ausgehenden 19. Jahrhundert, als sich visuelle ethnische Codes ausgestalteten. Wir blicken zweimal auf Grenzziehungen in imperialen Räumen. Es beginnt an einem Ort, an dem sich Deutsche, Pol:innen und Jüdinnen:Juden in spezifischen Konstellationen trafen und sich Selbstbilder der deutschen Kultur ausprägten. Małgorzata Stolarska-Fronia untersucht in einem ersten Kapitel Bildpostkarten aus dem Dreikaisereck, wo sich Alteingesessene, Neuankömmlinge und Durchreisende verschiedener ethnischer Gruppen und diverser staatlicher Zugehörigkeiten trafen. Das Deutsche Kaiserreich erzählte sich an seiner Grenze über den Vergleich mit den Anderen. In einem zweiten Kapitel stellen wir die polnischjüdischen Beziehungen in den Fokus. Maren Röger zeigt, was für ein ausgeprägtes Motiv die Judenheiten in der Bildmedienproduktion Galiziens darstellten. Oftmals dienten die kleinen Karten einer Abgrenzungserzählung, die sowohl spezifisch in den polnischen Nationsdiskurs einzuordnen war als auch Teil einer gesamteuropäischen antisemitischen Bilderzählung, in deren Repertoire galizische Jüdinnen:Juden eine besondere Rolle einnahmen. In Oberschlesien, am Dreikaisereck, reproduzierte man jene Bildwelten aus Galizien – hier scheint ein anderer transregionaler Aspekt der Beziehungsbilder auf. Nach diesen Untersuchungen der Grenzziehungen in unterschiedlichen imperialen Konstellationen, einmal mit Fokus auf Staatsgrenzen, einmal mit Fokus auf ethnische Gruppen innerhalb einer Region, nehmen wir im dritten und letzten Kapitel den besonderen Moment der offenen nationalistischen Konflikte nach dem Zerfall der Imperien in den Blick. Marcin Wieloch, unter-

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