Leseprobe

»Drei Kaiser-Reich-Ecke bei Myslowitz O.S. Ist der einzige Ort a. d. Erde an d. 3 Kaiserreiche aneinander grenzen. Fremde die n. Oberschles. kommen versäumen nicht d. bedeutenden Ort zu besuchen.« Mit dieser Beschreibung bewirbt eine Postkarte aus dem Verlag Hermann Lukowski in Breslau (heute Wrocław) die südöstliche Region Oberschlesiens (Abb. 1). Diese Karte wurde im September 1913 nach Berlin versendet und ist eine von vielen verschiedenen Postkartenvariationen, welche über die Besonderheit dieses Ortes informieren, der zu den Punkten auf der Auswanderungsroute von Tausenden von Menschen aus Galizien gehörte, die durch Preußen nach Amerika emigrierten.1 Eisenbahnlinien und Fährverbindungen von Myslowitz/Mysłowice2 aus ermöglichten Reisen sowohl innerhalb der Region, z. B. nach Breslau, als auch zu geografisch viel weiter entfernten Orten, vor allem über Krakau/Kraków bis nach Galizien hinein, nach Lemberg/Lwów, Drohobycz (heute ukr. Drohobyč) oder Brody (heute ukr. Brody). Aus der Gegend um das Dreikaisereck reisten die Menschen auch nach Bremen und Hamburg, von wo aus Scharen von Auswandernden (wenn sie überhaupt bis dahin kamen) mit dem Schiff nach Argentinien und in die USA übersetzten.3 Von Myslowitz aus verschickte Postkarten hatten ähnliche Bestimmungsorte, daher rührte auch ihr reichhaltiges und vielfältiges ikonografisches Programm – dieses sollte aus dem Ort ein wichtiges touristisches Zentrum erschaffen, aber auch ein Zentrum für den Waren- und Personentransfer insbesondere von Ost nach West. Die visuelle Geschichte von Myslowitz besteht aus Bilderzählungen, die die provinzielle Atmosphäre der Belle Epoque und das idyllische Leben der Myslowitzer Bourgeoisie, Ansichten der Landschaft der aneinandergrenzenden Länder sowie des Wirtschaftslebens und der dynamischen Beziehungen zwischen den Menschen, die den Ort besuchten, einschließlich der Händler:innen und Schmuggler:innen zeigten. Die visuelle Erzählung der mehr als 300 von uns untersuchten Postkarten wird jedoch von einer Meistererzählung dominiert, die auf den meisten Karten entweder als Hauptbestandteil oder als Komponente einer mehrteiligen visuellen Geschichte erscheint. Die Postkarten aus dem Dreikaisereck wurden mehrheitlich von lokalen Herstellern produziert, deren Perspektive Auswirkungen auf die gewählte Meistererzählung hatte. Daher dominieren auf den Postkarten Ansichten von preußischer Seite, wodurch sich die Sichtweise sowohl der preußischen Behörden als auch der ethnisch deutschen Bevölkerung aufzwingt. Diese Perspektive beeinflusst automatisch auch die Darstellung der Nachbar:innen aus den beiden anderen Kaiserreichen sowie der zahlreichen Zugereisten, d. h. von Angehörigen anderer Nationen und Ethnien. Die Meistererzählung besteht daher aus drei Schlüsselelementen vorwiegend deutscher Provenienz: Abbildungen der Kaiser, Ansichten der Landschaft der Przemsa (pl. Przemsza) von der preußischen Seite und des Bismarckturms aus. Die germanophile Perspektive der Postkarten wird auch durch die Textebene bestätigt – die meisten Bildunterschriften sind ausschließlich in deutscher Sprache. Von den einigen hundert Postkarten, die wir untersucht haben (hauptsächlich aus polnischen Sammlungen), sind nur wenige ausschließlich auf Polnisch oder sowohl auf Polnisch als auch auf Russisch beschriftet. Dies ist vor allem bei Werbepostkarten der Fall, welche die durch das Russländische Reich besetzten Teilungsgebiete vermarkteten. Eine Karte aus der Sammlung der Nationalbibliothek in Warschau zeigt eine Ansicht des Flusses Przemsa von der preußischen Seite aus, ist aber mit »Sosnowiec. Pogranicze 3 królestw« [Sosnowiec. Grenzgebiet der 3 Kaiserreiche]4 betitelt. Auch die Namen der Länder sind hier auf Polnisch angegeben. Die zweite Postkarte,5 die wegen der darauf abgebildeten Figuren sehr aufschlussreich ist (die ausführliche Beschreibung folgt im weiteren Verlauf), zeigt den Szczakowa-Übergang, die Grenzbrücke über die Przemsa und den Bahnhof in Myslowitz. Sie wurde im Auftrag des Wechselstubenbesitzers Władysław Hertz hergestellt, alle Bildunterschriften sind auf Polnisch, allerdings wurden das Wort »Granica« sowie der Name des Ausstellungsortes der Postkarte ebenfalls auf Russisch angegeben.

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