Leseprobe

Führte uns das vorangegangene Kapitel in den Grenzraum zwischen den drei Kaiserreichen, wo über die kleinen Karten Geschichten der Selbst- und Fremdwahrnehmung erzählt wurden, setzen wir unseren Streifzug nun in Galizien fort. Herausgeschält aus einem früheren Kernland der polnisch-litauischen Adelsrepublik, entwickelte sich das Habsburger Kronland Galizien-Lodomerien seit Ende des 19. Jahrhunderts zum »polnischen Piemont«.1 Dort konnte sich die polnische Nationalbewegung nach der Gewährung der Autonomie erfolgreich etablieren. Identitätsformation fand, so John-Paul Himka prominent, in einem polnisch-ukrainisch-jüdischen Dreieck statt, denn auch die ukrainische Nationalbewegung sah in Galizien ihr Piemont.2 Bei den lokalen Judenheiten, insgesamt zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahr 1890,3 ließen sich Phänomene der Akkulturation vor allem an den polnischsprachigen Eliten,4 aber auch der Versuch, eigene Nationskonzepte vorzulegen (Diasporanationalismus, Jiddischismus, Zionismus), sowie alternative Gemeinschaftskonzeptionen (Sozialismus) zu entwickeln, beobachten.5 Der Glaube an die Habsburger Idee war in Galizien, ebenso wie im benachbarten Kronland Bukowina, unter den Judenheiten weit verbreitet, da die Hoffnung auf Gleichstellung an das Herrscherhaus geknüpft war.6 Unter vielen bürgerlichen Jüdinnen:Juden der Habsburger Monarchie herrschte eine Dreifachidentität: »im religiös-ethnischen Sinne jüdisch, im kulturellen Sinne polnisch, tschechisch, deutsch, ungarisch oder kroatisch, während ihre politische Loyalität dem übernationalen Vielvölkerstaat galt«.7 Über all diese politischen Ideen, ihre Vorkämpfer: innen und ihre Verbreitung (und deren Grenzen) und auch die Auseinandersetzung zwischen den sich formierenden Gruppen der Ukrainer:innen, Pol:innen und Jüdinnen:Juden sind zahlreiche Bücher erschienen, die nicht nur Regale, sondern Bibliotheken füllen.8 Unser Blick richtet sich nun auf die visuellen Erzählungen der Judenheiten auf Bildpostkarten: Auf Selbsterzählungen durch Verleger:innen, von deren jüdischem Hintergrund und/oder Positionierung wir wissen, und auf Fremdbildern durch nicht-jüdische editorische Institutionen aus der Region selbst, aber auch den überregionalen Zentren der Druckindustrie wie Wien, Berlin und Leipzig. In einem ersten Schritt fächern wir das Spektrum der Produktion auf und gehen auf die Vielfalt der Darstellung von Judenheiten ein, indem insbesondere die zeitgenössischen Darstellungen jüdischer Kultur benannt werden. In einem zweiten und dritten Teilkapitel fokussieren wir Antisemitika, zuerst diejenigen, die als spezifische Narrative Galiziens gedeutet werden müssen, dann diejenigen, die überregionale, oft gesamteuropäische Topoi der Ablehnung von Judenheiten bildeten. Schließlich zeigen wir an ausgewählten Beispielen, wie in Galizien entworfene Bilder von Judenheiten in Oberschlesien – die Region, in die uns der Streifzug im ersten Kapitel führte und wohin wir im dritten zurückkehren werden – aufgegriffen und angeeignet wurden. Jüdische Kultur im kleinen Bild: Grußkarten, Gemälde und das Geschäft9 Galizien etablierte sich, gemeinsam mit der benachbarten Bukowina, als eine Region, in der zahlreiche Bildpostkarten produziert wurden, die die Judenheiten zum Thema hatten. Dies waren erstens Grußkarten zu jüdischen Festen, die ein einträgliches Geschäft wurden. »Git Jontef« (dt. Frohes Fest) oder »Git Schabes« (dt. Frohen Schabbat) wünschten jene Karten,10 zudem sind hebräisch und jiddisch beschriftete Karten der galizischen Verleger:innen mit Neujahrgrüßen oder Wünschen zum Laubhüttenfest überliefert.11 Als Zielgruppe dieser Karten ist in erster Linie die jüdische Bevölkerung anzunehmen, die Grüße verschickte, denn im Zuge des Postkartenfiebers veränderten sich die Bräuche der Bevölkerung.12 In zweiter Linie richteten sie sich auch an die sich auf Reisen befindende nicht-jüdische Bevölkerung, die jüdische Kultur per Postkarte an Familienmitglieder und Freund:innen kommunizieren wollte.13 Denn Verleger:innen aus Galizien publizierten Judaika, die meines Erachtens als Erklärungen jüdischen Lebens verstanden werden müssen. Zahlreiche Karten mit Fotografien zeigen traditionell gekleidete Jüdinnen:Juden, wobei einige in vollem religiösen Ornat sind, sprich Tallit und Tefillin tragen. Weiter fällt auf, dass viele Bildunterschriften den Ansichtskartenkäufer:innen die Personen in Verbindung mit religiösen Praktiken erläutern: »Betender Jude/Modlący się żyd«14 oder »Morgengebet«15 lesen wir, auf anderen Karten werden die abgebildeten Personen über ihr religiöses Studium des Talmuds oder an der Jeschiwa eingeführt. Wieder andere, oftmals gezeichnete, simplere Karten erläutern Praktiken am Vorabend des Schabbats (Abb. 1 und 2) oder Neujahrswünsche der Kinder (Abb. 3). Andere editorische Institutionen, etwa der Verlag N.E.St., dessen Abkürzung durch die Recherchen leider nicht aufzulösen war, publizierte Reproduktionen naiv wirkender Zeichnungen, die freundliche Sittenbilder jüdischen Lebens darstellten. So etwa die 1902 urheberrechtlich geschützte Karte, die eine Begrüßungsszene abbildet (Abb. 4). Eine mehrköpfige, adrett gekleidete, jüdische Familie empfängt in den freundlich

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