Leseprobe

I 50 Von Lemberg über Myslowitz nach Wien wende lässt sich einerseits auf die Suche nach Identität und den Wunsch einiger jüdischer Künstler, die eigene Perspektive zu zeigen, zurückführen, andererseits auf eine Leidenschaft für Volkstypen, ähnlich dem oben genannten, bei dem Darstellungen von Jüdinnen:Juden den Bedarf an vermeintlich exotischen Themen befriedigten. So werden jüdische Figuren, wie etwa die berühmte »Jüdin mit Orangen« (1880–1881) von Aleksander Gierymski, zum Gegenstand von Gemälden nichtjüdischer Maler. Insbesondere der SMP tat sich hervor. Darunter waren Reproduktionen von Gemälden des polnisch-jüdischen Künstlers Artur Markowicz, der sich in seinem Schaffen auf die Judenheiten in den Kleinstädten der polnischsprachigen Territorien konzentrierte.18 Ihren Weg in die Blavatnik Archives fanden fünf Motive einer wahrscheinlich zusammenhängenden Serie, die religiöse Praktiken und Austausch darstellten (Abb. 7). Das Verlagshaus von Henryk Frist verlegte des Weiteren Reproduktionen der Gemälde von Maurycy Gottlieb. Der 1856 im ostgalizischen Drohobycz (heute ukr. Drohobyč) geborene Maler begeisterte sich seit seiner Studienzeit für den polnischen Historienmaler Jan Matejko. Er sah das polnische und das jüdische Volk durch ihre Leidensgeschichten vereint und verfolgte die Idee einer polnisch-jüdischen Versöhnung durch Malerei.19 Seine Gemälde reproduzierte auch der Verlag Wydawnictwo Pocztówki. Die Reproduktionen der Gemälde waren stets in Farbe, in der Regel hochwertig und meist polnisch beschriftet. Die Bildunterschriften der simpleren, gezeichneten Karten sind auf Polnisch, Hebräisch, Jiddisch, aber überwiegend auf Deutsch. Dies kann in zweierlei Hinsicht gelesen werden: Shalom Sabars, der – insgesamt mit grobem Pinselstrich – die Postkartenproduktion im Deutschen Kaiserreich und den polnischsprachigen Gebieten, vor allem Kongresspolen, mit jüdischreligiösen Themen verglich, formulierte die These, dass die Postkartenproduzent:innen im östlichen Europa Karten mit jüdisch-religiösen Motiven nur für die jüdische Gemeinschaft produziert hätten. Sie seien an die modernisierten Stadtjüdinnen:juden gerichtet gewesen, die mit religiösen Traditionen mitunter nicht mehr vertraut waren, und hätten nostalgische Qualitäten gehabt.20 Jedoch, so mein Gegenargument, deutet die Aneignung der Karten durch die Postkartenschreibenden Abb. 4 Naive Bilder jüdischen Lebens: Ein Teil des galizischen Postkartenschaffens – Jak się masz! – Servus! – Schulem alaichem! [Wie geht es dir! – Servus! – Friede sei mit Euch!] O. O.: N.E.St., 1902.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1