Nach den Untersuchungen der Grenzziehungen in unterschiedlichen imperialen Konstellationen, einmal mit Fokus auf Staatsgrenzen, einmal mit Fokus auf ethnische Gruppen innerhalb einer Region, nimmt das dritte und letzte Kapitel den besonderen Moment der offenen nationalistischen Konflikte nach dem Zerfall der Imperien in den Blick. Marcin Wieloch, unterstützt durch Ryszard Kaczmarek, führt uns wiederum nach Oberschlesien, in die heiße Phase des deutsch-polnischen Propagandakampfes während des Plebiszits. Er gibt uns Einblick in die Vielfalt der visuellen Medien, die damals eingesetzt wurden. Im Fokus stehen zwei illustrierte Zeitschriften, die besonders mit Karikaturen arbeiteten, hinzu kommen Flugblätter und Propagandaplakate. Das Kapitel trägt der Tatsache Rechnung, dass sich nach dem Ende des »goldenen Zeitalters der Postkarten« mediale Schwerpunkte verschoben. Flugblätter und Plakate als Mittel der Agitation in der oberschlesischen Volksabstimmungskampagne Die Propagandamaßnahmen, die in Oberschlesien im Wahlkampf vor der Volksabstimmung eingesetzt wurden, waren vielfältig und lassen sich in mehrere Gruppen einteilen.1 Dazu gehören textzentrierte Druckerzeugnisse (z. B. Broschüren, Flugblätter, Aushänge und Aufrufe sowie Zeitschriften), visuelle Kommunikationsmittel (Filme, Plakate, Aufkleber, Postkarten), direkte Einflussnahme (z. B. Kundgebungen, Ausflüge und Mundzu-Mund-Propaganda) sowie materielle Unterstützung (Geldzuwendungen, Verteilung von Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs).2 In Bezug auf die genannten medialen Agitationsformen erscheint es sinnvoll, eine zusätzliche Unterteilung vorzunehmen. Üblicherweise werden nach dem Grad der Transparenz in Hinblick auf die Urheber drei Arten von Propaganda unterschieden: »graue«, »schwarze« und »weiße«. Erstere wird ohne Offenlegung des Urhebers verbreitet. Dazu gehören Maßnahmen wie Flugblätter ohne Unterschrift, Broschüren unbekannter Herkunft oder Rundfunksendungen ohne Nennung eines Verantwortlichen. »Weiße« Propaganda zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Urheber offenlegt und in dessen Interesse handelt. Im Gegensatz dazu täuscht die »schwarze« Propaganda die Urheberschaft des Gegners vor und handelt gleichzeitig zu dessen Nachteil. Dazu gehören etwa Falschmeldungen in der Presse.3 Die gängigste und auffälligste Methode der agitatorischen Einflussnahme war die Verteilung von Drucksachen. Dabei spielten Broschüren neben der Presse eine führende Rolle. Zur Veranschaulichung des Ausmaßes der deutschen Propagandakampagne sei hier die Tatsache angeführt, dass das Deutsche Reich mehr als 100 000 Stück solcher Broschüren herausgab, die später in Auflagen von hunderttausenden Exemplaren verteilt wurden.4 Inhaltlich können die Broschüren in monothematisch, folglich auf nur einem oder mehreren bedeutungsähnlichen Argumenten beruhend, oder multithematisch, also mit Darstellung der Probleme der oberschlesischen Region aus vielen Perspektiven, kategorisiert werden. Letztere waren eindeutig in der Überzahl.5 Trotz der hohen Auflage hatten die Broschüren als Agitationsform keine große Wirkung. Aufgrund der schwierigen Sprache und der umfassenden Informationen hatte nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der polnischsprachigen Oberschlesier:innen Interesse, sie zu lesen. Daher wurde die Vervielfältigung von Broschüren einige Wochen vor der Volksabstimmung aufgegeben, und man konzentrierte sich auf die Verbreitung von Flugblättern, die die Argumente beider Seiten lediglich zusammenfassten, um das bildungsfernere Publikum zu erreichen.6 Die Aufrufe zur Abstimmung wurden von verschiedenen Institutionen verbreitet, so zum Beispiel durch die Plebiszitkommissariate, die politischen Parteien und die Gewerkschaften. Sie richteten sich an die Gesellschaft als Ganzes oder jeweils an bestimmte gesellschaftliche Gruppen, insbesondere einzelne Berufsgruppen. Die Plebiszitkommissariate forderten die Bevölkerung auf, für die jeweils von ihnen vertretenen Staaten zu stimmen, während die politischen Parteien ihren Mitgliedern eine konkrete Abstimmungsentscheidung für eine politische Partei innerhalb der nationalen Tendenzentscheidung nahelegten.7 Bei den Gewerkschaften wurden die Aufrufe meist von den Branchengewerkschaften subventioniert, und ihr Inhalt ähnelte dem der für die breite Öffentlichkeit bestimmten Proklamationen. Es wurden auch zahlreiche Aufrufe veröffentlicht, die von Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Eliten unterzeichnet waren. Häufig waren die Flugblätter und Bekanntmachungen illustriert. Sie wurden in der Regel massenhaft sowohl in polnischer als auch in deutscher Sprache herausgegeben. Das polnische Plebiszitkommissariat,8 das in Oberschlesien hauptverantwortlich für die Volksabstimmungsangelegenheiten u. a. in Bezug auf Propaganda und Aufklärung war, verteilte jedes Mal Bekanntmachungen in einer Auflage zwischen 300 000 und einer
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1