Leseprobe

I 102 Am Schluss eines Streifzugs: Fazit zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen definiert – Wirtschaftsmigrant:innen aus dem Osten und Vertreter:innen verschiedener Ethnien, sehr häufig Jüdinnen:Juden sowie Geschäftsleute aus Galizien. Abgrenzungen und Ausgrenzungen: Von der (gefährlichen) Körperlichkeit des Nationalismus Grenzziehungen nahmen die Ansichtskarten der Jahrhundertwende und dann die Presseillustrationen der Phase nach 1918 aber auch auf anderer Ebene vor. Sie stellten unterschiedliche Gruppen, Pol:innen und Jüdinnen:Juden, Deutsche und Pol:innen, einander gegenüber. Visuelle Kommunikation erfordert die visuelle Kennzeichnung und Stereotypisierungen von Personen, die es ermöglichten, die sozialen Akteure der Grenzbegegnungen zu unterscheiden. Entsprechend trug die massenhafte visuelle Kommunikation zu der Herausbildung von Gruppenstereotypen bei, die an Körperlichkeiten festgemacht wurden. Dies gilt in besonderem und hervorgehobenem Maße für die Inszenierung der Judenheiten, wie sie massenhaft auf Postkarten aus Galizien zu finden war. Handelte es sich in Teilen um Inszenierungen mit einem antisemitischen Motivset, wie es sich im gesamten Europa zeitgenössisch herauszubilden begann, erzählten andere Postkarten eine Geschichte der Nicht-Integrierbarkeit von Judenheiten in die polnische und deutsche Nation: Sie blieben die Anderen, was im reduzierten Bildmedium der Postkarte an ihren Körpern festgemacht wurde. Antisemitische Modelle aus Galizien wurden auch auf Postkarten aus Myslowitz abgebildet. Nicht nur ihre Kultur und ihre Religion, sondern die Menschen in ihrer Körperlichkeit, der sie – egal in welcher Kleidung, egal wie assimiliert – nicht entrinnen konnten, wurden der Lächerlichkeit preisgegeben und dem Hass, wie sich in mancher Anschlusskommunikation zeigte. Die rassenbiologische Variante des Judenhasses, der selbst religiöse Konversion und kulturelle Assimilation von der Akzeptanz ausschloss, wurde hier in Bildform antizipiert bzw. befeuert. Die Judenheiten in ihrer Körperlichkeit wurden deutlich anders erzählt als andere Ethnien auf den Postkarten der Zeit. Bei ihnen blieben visuelle Wertigkeitsdiskurse, so das deutliche Ergebnis eines komparativ angelegten Sammelbands zu Völkertypen im östlichen Europa,1 auf der Ebene der Exotisierung stehen – die visuelle Freigabe zum Hass war spezifisch für die Postkarten mit Bildern von Judenheiten der Zeit. Auch der sich aufbauende polnisch-deutsche Konflikt in Oberschlesien um 1900 war weit davon entfernt, solch eine konfrontative, die anderen Menschen abwertende Bildsprache zu entwickeln. Ganz im Gegenteil: Auf den Ansichtskarten der Zeit finden sich, so Ryszard Kaczmarek und Remigiusz Lis an anderer Stelle, kaum Menschen.2 Erst nach 1918, als die Gewalteskalation des Ersten Weltkriegs am Ausklingen war und die Imperien zerfielen, brutalisierte sich in Oberschlesien die visuelle Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Pol:innen. In dieser Phase zeichneten die Karikaturist:innen nicht nur die Staatsoberhäupter der anderen Seite mit spitzer Feder, sondern gaben den Angehörigen des jeweils anderen Nationalstaats entmenschlichte Körper. In der deutschen Propaganda wurde »der Pole« verarmt dargestellt, trug zerrissene Kleider und Mützen, oder als Adliger, der Alkohol nicht scheute und verschwenderisch war. Polen erschien als ein rückständiges Land von Analphabet:innen. In den Zeichnungen der Pol:innen wurden die Deutschen als besiegte Soldaten verspottet. Sie erschienen als politische Betrüger:innen und Demagog:innen, die versuchen, den durch den Krieg angespannten Haushalt auf Kosten Polens zu sanieren. Doch auch die polnische Propaganda scheute nicht vor nationalen Stereotypen und Rohheiten zurück. Die Deutschen werden als grausamer Unterdrücker:innen, Lügner:innen und zugleich dummer und primitiver ewiger Feind der Pol:innen dargestellt. Die Grenzen, die auf den Postkarten gezeigt wurden, konnten scharf und gewalttätig werden. Das wurde auch bei Nationalismus und Judenhass deutlich. Bis zur radikalen Bildpropaganda der Nationalsozialisten, die politische Gegner:innen und als rassische Gegner:innen definierte Personen als Ungeziefer entwertete, war es nicht mehr weit. Das visuelle Feld war im deutsch-polnisch-jüdischen Dreieck auf jeden Fall schon bereitet, wie unsere Streifzüge zeigen. Anmerkungen 1 Hoyer/Röger, Völker verkaufen. 2 Vgl. Kaczmarek, Ryszard/Lis, Remigiusz: An der Grenze zwischen »West« und »Ost«. Die oberschlesische Bevölkerung auf Postkarten. In: Hoyer/Röger, Völker verkaufen, S. 99–112.

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