Leseprobe

Einleitung Grenzen, so die zeitgenössische, in Schlesien geborene Schriftstellerin Olga Tokarczuk, dienten uns dazu, »ein trügerisches Gefühl von Ordnung und Kontrolle über die Realität aufzubauen. Vergangenheit – Zukunft, real – unwirklich, Frau – Mann, Mensch – Tier, Traum – Realität, ein Land – ein anderes Land, eine Sprache – eine andere Sprache. Durch die Polarität dieser Kategorien entsteht ein einfaches Raster, das es uns ermöglicht, uns sicher zu fühlen – wir haben den Eindruck, die Welt zu verstehen. Aber das Interessanteste, Lebendigste und Wahrste passiert immer irgendwo dazwischen, in den unendlich weiten Grenzräumen.«1 Wie Bilder der deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungen in den Jahrzehnten um 1900 gestaltet wurden, ist das Thema dieses Buches. Deutsche, Pol:innen und Jüdinnen und Juden lebten damals in Europa an unterschiedlichen Orten in sich wandelnden Konstellationen zusammen, in den Metropolen ebenso wie an den Rändern der Imperien und Nationalstaaten. Um die Komplexität der Beziehungen im Alltag wissen wir ebenso wie um die Bedeutungszunahme der spaltenden Denksysteme von Nationalismus und Antisemitismus, die jenes von Tokarczuk beschriebene Raster aufbauten. Im Fokus stehen die Jahrzehnte zwischen 1890 und 1920. Wir orientieren uns weniger an politischen Zäsuren, obwohl es in diesen Jahrzehnten tiefgreifende gab: Die Imperien des östlichen Europa zerfielen in der Gewalteskalation des Ersten Weltkriegs, und Polen – zuvor zwischen dem Russländischen, dem Habsburger und dem Deutschen Kaiserreich aufgeteilt – konnte als eigenständiger Staat wiedergegründet werden. Unser Buch orientiert sich vielmehr an dem Aufstieg einer anderen Weltmacht: den technisch reproduzierbaren, ubiquitär verfügbaren visuellen Massenmedien. Der Siegeszug der Bildmedien für die Weltwahrnehmung kann unterschiedlich datiert werden. Historiker:innen der Moderne verorten ihn an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wohingegen die Spezialist:innen für frühere Epochen auf stete Bedeutung von Visualität und Medialität für die Aneignung von Welt verweisen. Die technologische Revolution des Buchdrucks nach Gutenberg ermöglichte massenhaftere Reproduktionen von Bildmaterial auf Flugblättern und Flugschriften, die in Öffentlichkeiten wirkten.2 Aber erst mit der Erfindung des Steindrucks, der Fotografie und dem Ausbau der Transportwege konnten Bilder überall sein. Es war insbesondere die Bildpostkarte, die all diese Qualitäten auf sich vereinte. Sie wird in zwei Kapiteln die wahre Protagonistin unseres Buches. In der Größe unscheinbar, durch den Weltpostverband auf 9 mal 14 Zentimeter normiert,3 trat sie nach ihrer Einführung den Siegeszug an. Die Produktionsstatistiken des Jahres 1899, wie Ado Kyrou sie angibt, sprechen Bände: Im Deutschen Kaiserreich seien allein in diesem Jahr 88 Millionen Postkarten produziert worden – bei einer Einwohnerzahl von 50 Millionen. England produzierte 14 Millionen Karten, Belgien 12 Millionen, Frankreich 8 Millionen.4 Leclerc spricht gar von 750 Millionen produzierten Exemplaren um die Jahrhundertwende,5 die sowohl für den heimischen Markt bestimmt waren als auch in andere Länder verkauft wurden. Laut Deutscher Verkehrszeitung gingen die Exporte der deutschen Postkartenfirmen hauptsächlich in die USA, Großbritannien und an dritter Stelle dann nach Österreich-Ungarn. Eva Tropper gibt 350 Millionen exportierte Postkarten im ersten Halbjahr 1908 an, womit sie die Größenordnungen bei Leclerc stützt.6 Im Russländischen Reich begann die Produktion der Karten später, doch handelte es sich klar um einen Wachstumsmarkt. Anna Larina gab an: »So wurden dort im Jahr 1900 58,7 Millionen Postkarten verschickt, darunter auch illustrierte; 1913 waren es bereits 318 Millionen.«7 Für die Gebiete, die im Fokus unseres Buches stehen, Oberschlesien und Galizien, liegen uns keine Produktionszahlen vor, aber Hinweise auf die breite Verwendung der kleinen Karten: So wurden in Lemberg/ Lwów (heute L’viv), Hauptstadt des Habsburger Kronlandes Galizien, im Jahr 1908 monatlich zwei Millionen Postkarten in den Briefkasten geworfen – und das bei einer Einwohnerzahl von damals 200 000 und einer immer noch hohen Analphabetismusquote in der Region. Sprich jede:r Bewohner:in versendete zehn Postkarten im Monat.8 In Oberschlesien ermöglichte das schnell wachsende Netz von Postämtern, von denen es zur Jahrhundertwende allein in der Region Oppeln (heute Opole) über 150 gab, das »Postkartenfieber«. Um nur einen Einblick zu geben: Allein im Jahr 1897 wurden an nur einem dieser Posten, in Peiskretscham bei Gleiwitz (heute Pyskowice, zu dem damals eine 5 000-Einwohner:innen-Stadt sowie 34 kleinere Orte gehörten), 36 114 Postkarten verschickt und 31 512 Postkarten erhalten.9 Die kleinen Karten prägten Bilder von der Welt. Der Großteil der damals produzierten Bildpostkarten in Europa und Übersee zeigte Städte und Dörfer. Naturansichten waren ebenfalls erhältlich. In jene topogra­

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