I 8 Einleitung fischen Ansichtskarten konnten zudem Vignetten mit Personendarstellungen eingearbeitet werden, die in tradierten oder im Zuge des Nationalismus wieder entdeckten oder gar erfundenen Trachten gekleidet waren. Zahlreiche Bildpostkarten stellten alleinig Personen und Personengruppen in den Fokus. Jenseits der Erotika, die uns in diesem Buch nicht interessieren, waren dies Darstellungen von ethnisch markierten Personen, sei es auf reproduzierten Gemälden oder Fotografien oder Karikaturen, die eng mit der Entwicklung der zeitgenössischen Presseillustration verbunden sind. Über die ethnisierende Darstellung von Personengruppen wurden so im imperialen Zeitalter auch Regionen markiert.10 Welche Bildergeschichten erzählten nun die kleinen Karten in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende? Wie zeigten sie Pol:innen, Jüdinnen:Juden und Deutsche – Gruppenbezeichnungen, hinter denen sich komplexe Identitätsverhandlungen verbargen, die je nach Staats- und Staatsbürgerrahmen unterschiedlich waren und auf die noch eingegangen wird –, wie den Grenzraum, in dem sich die Personen, aber auch die politischen Entitäten und Selbstkonzeptionen begegneten? In den ersten beiden Kapiteln liegt der Schwerpunkt auf dem ausgehenden 19. Jahrhundert, in dem die Bildpostkarte das dominante visuelle Medium war, um dann einen vertiefenden Blick in das erweiterte visuelle Medienset zum Höhepunkt der deutsch-polnischen Agitation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu werfen. Anschließend wird der Fokus auf die illustrierten Zeitschriften gerichtet, ein Medium, das seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer populärer wurde.11 Aus all den Begegnungsräumen von Deutschen, Pol:innen und Jüdinnen:Juden in den Jahrzehnten zwischen 1890 und 1920 haben wir zwei ausgewählt für unseren Streifzug, der nicht erschöpfend sein kann und will. Im Fokus stehen Oberschlesien und Galizien, Regionen, in denen sich die »Dimensionen des Dreiecks« je anders darstellten. In beiden Regionen begegneten sich die Personen, deren Zugehörigkeitsgefühl zu sprachlichen oder ethnisch-national kodierten Gruppen sich zumeist erst in der Interaktion miteinander entwickelte. In beiden Regionen entwarfen die Vorkämpfer:innen der Nation ihre Ideen in Abgrenzung zu einer der anderen Gruppen. Hier wurden die Grenzen nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch zwischen dem Eigenen und dem Fremden am deutlichsten gezogen. Dazu trugen die intensiven Migrationsbewegungen bei. Oberschlesien und Galizien: Beziehungsbilder aus besonderen »Borderlands« Oberschlesien (heute pl. Górny Śląsk, tsch. Horní Slezsko) ist eine Region, die sich in der Neuzeit als Teil des historischen Schlesiens im oberen Odereinzugsgebiet entwickelt hat.12 Die Bevölkerung zeichnete sich durch sprachliche, religiöse und kulturelle Heterogenität aus: Neben der deutsch-, polnisch- und tschechischsprachigen stellte auch die als schlesisch bezeichnete Bevölkerung (pl. Ślązacy:Ślązaczki, tsch. Slezáci:Slezačky, dt. Schlesier:innen) eine bedeutende Gruppe dar.13 Religion war ein weiterer Faktor, der zum Fortbestehen der ethnischen Vielfalt in Oberschlesien beitrug. Im preußischen Oberschlesien überwogen Katholik:innen (etwa 90 Prozent der Gesamtbevölkerung) sowohl unter der polnisch- und deutschsprachigen als auch unter der als schlesisch bezeichneten Bevölkerung. Im preußischen Westschlesien hingegen waren die Katholik:innen gegenüber den Anhänger:innen der Evangelischen Kirche in Preußen in der Minderheit. Protestant:innen machten im preußischen Oberschlesien nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung aus und sahen sich überwiegend als Deutsche. Im Teschener Schlesien (als Teil Österreichisch-Schlesiens), wo die Mehrheit ebenfalls katholisch war, hatte die evangelisch-augsburgische Kirche, deren Gläubige sich sowohl als Deutsche, Pol:innen als auch als Schlesier:innen bezeichneten, einen weitaus größeren Einfluss.14 Eine vergleichsweise kleine jüdische Minderheit machte in Oberschlesien nur wenige Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Jüdinnen:Juden dort identifizierten sich fast ausnahmslos als Deutsche, mit Ausnahme der Zugewanderten aus dem habsburgischen Galizien und dem Königreich Polen, das Teil des Russländischen Imperiums war. Dort wurden neben dem orthodoxen Judentum zunehmend zionistische Einflüsse stärker, sodass sich Jüdinnen:Juden dort vermehrt einer jüdischen Minderheit zugehörig erklärten. Die Politisierung durch nationalistische Akteur:innen wurde vor allem entlang der deutsch-polnischen Trennlinie aufgebaut. Ethnisch aufgeladene Spaltungen wurden in Oberschlesien auch durch das ungleiche Tempo der Industrialisierung und Urbanisierung bestimmt, die den Prozess der Akkulturation mit den Ti-
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