Leseprobe

Oberschlesien und Galizien: Beziehungsbilder aus besonderen »Borderlands« 9 I tularnationen beschleunigten. Die deutsche Bevölkerung überwog daher in der oberschlesischen Industrieregion, etwa in Kattowitz (heute Katowice), Königshütte (1922–1934 Królewska Huta, heute Chorzów), Gleiwitz (heute Gliwice) und Beuthen O. S. (heute Bytom) sowie in Städten wie Kreuzburg O. S. (heute Kluczbork), Ratibor (heute Racibórz), Hultschin (heute Hulčín) und Bielitz (heute Bielsko-Biała). In den Dörfern, in denen die soziale Mobilität gering war, überwog die polnischsprachige Bevölkerung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich. Vor dem Ersten Weltkrieg lag Oberschlesien an der Ostgrenze des Deutschen Reiches. Aus diesem Grund spielte die Gegend eine symbolisch wichtige Rolle als letzte preußische Bastion vor der Grenze – ihr südöstlicher Teil rund um den Ort Myslowitz (seit 1922 Myslowice)15 und den Fluss Przemsa traf sich in einem Dreiländereck mit dem Russländischen Reich und dem Habsburger Imperium und erhielt den Beinamen »Dreikaisereck«. Obwohl auf allen Seiten der Grenze polnischsprachige Menschen lebten und es bereits zu deutsch-polnischen und polnisch-tschechischen Nationalitätenkonflikten kam, hatte sich nur bei einigen Oberschlesier:innen ein Nationalbewusstsein herauskristallisiert. Die Mehrheit dürfte sich damals auf einer alltäglichen Ebene als Schlesier:innen identifiziert haben, also als eigenständige Gruppe. Da aber diese Kategorie bei Volkszählungen nicht verwendet wurde, ist sie nicht mit quantitativen Angaben zu unterlegen. Auf der Pariser Friedenskonferenz wurde die Möglichkeit, sich zur »schlesischen Nation« zu erklären oder den »Freistaat Oberschlesien« zu gründen, nicht berücksichtigt. Bei der Volksabstimmung in Oberschlesien 1921 konnte man lediglich entscheiden, ob man zu Polen oder Deutschland gehören wollte. Die Region Galizien gelangte im Zuge der Teilungen Polen-Litauens in das Herrschaftsgebiet der Habsburgermonarchie. Als Königreich Galizien und Lodomerien fungierte sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts als Kronland im zisleithanischen Teil der Monarchie, eines der flächenmäßig größten Kronländer auf 78 497 km2. Auf dem Territorium des Kronlandes Galizien lebten 1910 rund acht Millionen Menschen, die sich unterschiedlich identifizierten.16 Die Volkszählungen erfassten lediglich Religionszugehörigkeit und die hauptsächlich benutzte Umgangssprache, was der Komplexität der Situation nicht gerecht wurde. Denn unter anderem in Galizien pflegten viele Bewohner:innen mehrere Umgangssprachen. Zudem war die Sprachverwendung und deren Nennung an politisch-nationale (Neu-)Verortungen sowie auch Fragen sozialer Erwünschtheit gekoppelt. So ergab sich beispielsweise für Galizien zwischen 1900 und 1910 ein Rückgang derer, die in der früheren Volkszählung Deutsch als Umgangssprache angegeben hatten. Im Vergleich dazu nahm im selben Zeitraum die Anzahl jener, die Polnisch als Umgangssprache nannten, um 17,14 Prozent zu. Ruthenisch wurde um 4,35 Prozent häufiger genannt. 17 Unter den unterschiedlichen Gruppen war die jüdische Bevölkerung besonders zahlreich: 1890 lebten etwa 772 000 Personen israelitischen Glaubens im Kronland, etwa zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung,18 was zeitgenössisch im besten Fall als Kuriosum bzw. Faszinosum wahrgenommen wurde. Reiseführer wie der Baedeker wiesen gezielt auf die jüdische Bevölkerung hin. So vermerkte der Baedeker in den unterschiedlichen Ausgaben der 1890er Jahre, dass nirgendwo anders Jüdinnen:Juden so zahlreich seien wie in Galizien, wo sie den Handel kontrollierten, weshalb sie von den anderen Einwohner:innen zwar verachtet würden, jene sie aber auch zwingend brauchten.19 In beiden Regionen bedeutete »deutsch« unterschiedliche Dinge: Im Deutschen Kaiserreich war das Deutschsein über die Staatsangehörigkeit sowie zumeist zusätzlich über die Selbstverortung und Sprachverwendung bestimmt, in Österreich-Ungarn bezeichnete die Selbst- und Fremdbestimmung als »Deutsche« oftmals die Sprachverwendung im Alltag,20 wobei die Identifikation mit der übergeordneten monarchischen Idee und der kleinteiligen Herkunftsregion aus den deutschsprachigen Landen in zahlreichen Kronländern lange wichtiger war als eine ethnisch-nationalistische Identifikation mit dem Deutschtum.21 Nach 1918, nach dem Zerfall der Imperien und der Begründung der Nationalstaaten auf ihrem Territorium, setzten die Protagonist:innen des Nationalitätenkampfes das Verständnis des Deutschseins überwiegend synonym mit dem Nationalstaat. Für eine Untersuchung der deutsch-polnisch-jüdischen Bilder bieten sich beide Regionen also je anders an, weisen aber auch Gemeinsamkeiten auf: Sie gehören zu den multiethnischen, multilingualen und multireligiösen Borderlands, zu Grenzräumen, die in der Geschichte der Großregion Ostmitteleuropa so prägend

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