Leseprobe

13 Demokratie – Rhetorik/Image – Erinnerung „Im Jahre 1933, als Hitler an die Macht kam, war ich 14 Jahre alt. Wie den meisten Angehörigen meines Jahrgangs so hat auch mir bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs niemand gesagt, wie ein Staat und wie eine Gesellschaft eigentlich beschaffen sein sollten. Zwar war uns klar, dass die höhnische Herabsetzung der westlichen Demokratien durch das ,Dritte Reich‘ nicht richtig sein konnte, aber eine positive Vorstellung von der Demokratie und von der Ordnung eines Rechtstaats hatten wir kaum.“ Mit diesen Sätzen begann Helmut Schmidt die Broschüre Deshalb bin ich Sozialdemokrat, die vom SPD-Vorstand, genauer: von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, zur Bundestagswahl 1972 herausgegeben wurde. Zu dieser Zeit als „Superminister“ im sozial-liberalen Kabinett von Willy Brandt für die Ressorts Wirtschaft und Finanzen zuständig, schilderte Schmidt in der Wahlkampfpublikation sodann eindrücklich, wie er nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes zur Sozialdemokratie gefunden und ein Verständnis von Demokratie entwickelt habe. Als er im April 1945 in britische Kriegsgefangenschaft geriet, war er 26 Jahre alt und folgte wissbegierig den Vorträgen eines älteren Mitgefangenen zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der gemeinsam initiierten „Lageruniversität“. Bereits der Umstand, dass eine solche Institution von den Briten in dem Offizierslager zugelassen wurde, lässt sich als Ausdruck von Demokratie zur Einübung von Pluralismus und Meinungsfreiheit deuten, obschon es – bei aller Themenvielfalt – unter den Bedingungen des Kriegsendes und der Gefangenschaft ein hohes Maß an Kontrolle und Einschränkungen gab. Wie stark bei Schmidt seine Erfahrungen als Wehrmachtssoldat nachwirkten, zeigte sich fast 30 Jahre später in der Analogie, die er zwischen dem „Erlebnis der Kameradschaft“ an der Front und dem „Solidaritätsprinzip der Sozialisten“ zog. In beiden, so hieß es in der Broschüre, stecke „die gleiche sittliche Grundhaltung“. Es ist auffällig, wie Helmut Schmidt, je älter er wurde, vor allem seit den 1990er-Jahren in seinen politisch-biografischen Interviews und Erinnerungen von dem „Scheiß-Krieg“ und „Adolf Nazi“ sprach. Die funktional eingesetzten Kraftausdrücke sollten deutliche Ablehnung markieren und drückten zudem eine personalisierte Schuldzuweisung aus, während Schmidt von der Wehrmacht als soldatischer Organisation ein positives Bild zeichnete. Gleichzeitig legte er als Lehre aus der NS-Herrschaft nicht erst als Bundesminister der Verteidigung von 1969 bis 1972 großen Wert auf demokratisch kontrollierte Streitkräfte. Dass es sich bei der 1955/56 gegründeten Bundeswehr gemäß der im Grundgesetz verankerten Wehrverfassung um eine Parlamentsarmee handelte, in der „Staatsbürger in Uniform“ dienten, lag voll und ganz in seinem Sinne; ein Missbrauch der Armee sei aufgrund der historischen Erfahrungen Deutschlands unbedingt auszuschließen.

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