Leseprobe

14 Demokratie Diese Grundüberzeugung, nämlich der Primat der Politik über das Militär, leitete Helmut Schmidt auch in der seit den 1950erJahren laufenden Debatte über die Notstandsgesetze. Im Kern wurde über nichts Geringeres als über das bundesrepublikanische Staats- und Demokratieverständnis diskutiert. Strittig waren insbesondere die Zulässigkeit von Grundrechtsbeschränkungen im Notstandsfall, der Einsatz der Bundeswehr im Inland und eine von den Gewerkschaften geforderte Garantie des Streikrechts. Schmidt befürwortete das schließlich am 30. Mai 1968 verabschiedete Gesetzespaket. Er unterstrich in der Auseinandersetzung um diese Grundgesetzergänzung immer wieder, dass auch ein demokratischer Rechtsstaat auf extreme äußere und innere Bedrohungen vorbereitet sein müsse und notfalls konsequent zu reagieren habe. Auch in der SPD-Bundestagsfraktion, der Schmidt von 1966/67 bis 1969 vorstand, waren intensive Diskussionen über das Für und Wider der Notstandsgesetze geführt worden. Schmidt sorgte für einen möglichst breiten Austausch, den er angesichts der teilweise stark divergierenden Standpunkte unter den sozialdemokratischen Abgeordneten vorstrukturierte und moderierte. Darüber hinaus bestand eine seiner Aufgaben als Fraktionsvorsitzender darin, Vermittlungsarbeit gegenüber der Bundesregierung, der FDP als Koalitionspartnerin sowie den gesellschaftlichen Interessengruppen zu leisten. Dieses Vorgehen steht beispielhaft für Schmidts nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeformtes, plurales Demokratieverständnis, das auf offene Diskussion und Überzeugungsarbeit ausgelegt war. Demokratie mit all ihren Normen, Institutionen und Prozessen bedeutete für Schmidt per definitionem auch Streit. Zugleich setzte er – stets an der Sache orientiert – auf die Kraft rationaler Argumente, und am Ende einer politischen Debatte musste nach seiner Überzeugung ein per Mehrheitsentscheidung festgeschriebener Kompromiss stehen. Eine Entscheidung zu verschleppen oder gar offen zu lassen kam für ihn nicht infrage. Für Schmidt gehörte dieser fortwährende Aushandlungsprozess zu den „Maximen politischen Handelns“, wie er am 12. März 1981 als Bundeskanzler seinen Vortrag auf einem Kant-Kongress überschrieb. Den Ausgangspunkt für seine „Bemerkungen zu Moral, Pflicht und Verantwortung des Politikers“ bildete seine Wertschätzung für die Philosophie von Immanuel Kant, von der er sein „pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken“ zugunsten des Gemeinwohls ableitete, beziehungsweise der „res publica“, um es mit den beiden von ihm bevorzugten Vokabeln auszudrücken. Unmittelbar bezog Schmidt sich in seinen Ausführungen indessen auf die Auseinandersetzungen über den NATO-Doppelbeschluss und die sogenannte friedliche Nutzung der Kernenergie, über die – zumal angesichts der verschärften Blockkonfrontation zwischen der USA und der Sowjetunion sowie der beiden Ölpreiskrisen 1973/74 und 1978/79 – innerhalb der SPD wie auch in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert und immer wieder zudem erbittert gestritten wurde. Wörtlich sagte der Kanzler vor dem von der FriedrichEbert-Stiftung (FES) eingeladenen Kongresspublikum, das größtenteils aus Philosophen und Soziologen bestand: „Gegenwärtig führt die Sozialdemokratie die Diskussion über wichtige Zukunftsfragen, zum Beispiel über Sicherheitspolitik, über Energiepolitik, stellvertretend für viele andere im Land. Und ich hoffe, dass jene Bürger, die davon heute vielfach irritiert sind, auf längere Sicht anerkennen werden, dass diese Diskussion notwendig war. Allerdings will ich freimütig hinzufügen: Allzuviel Streit ist in einer Demokratie von Übel, und Porzellan muss dabei nicht unbedingt zerschlagen werden. Umgekehrt jedoch gilt: Angst vor dem Konflikt, übersteigertes Harmoniedenken oder gar die Sehnsucht nach einem vom Staat gestifteten, für alle verbindlichen Sinnzusammenhang, die können die politische Kultur, die können die Substanz unserer Demokratie gefährden.“ Politik in einer Demokratie, das lässt sich aus den letzten Zeilen herauslesen, war für Helmut Schmidt nicht die Angelegenheit eines „Mannes mit dem Löwenherzen“, der vermeintlich einfache Lösungen für komplexe politisch-gesellschaftliche Probleme kannte und notfalls mit „eisernen Besen“ kehrte, wie es vor 1933 in der Endphase der Weimarer Republik häufig von rechtsextremer Seite populistisch gefordert worden war. Nach seinen Erfahrungen und Erkenntnissen unter dem nationalsozialistischen Regime ging Schmidt derart simplifizierenden Heilsversprechungen nicht auf dem Leim. Vielmehr folgte er dem Philosophen Karl Popper und dessen Bekenntnis zum Kritischen Rationalismus, wonach jedwede Form von totalitären Systemen und Utopien abzulehnen sei.

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