15 Gleichwohl bedürfe es in einer Demokratie der politischen Führung, wie Schmidt in einem Interview mit der Illustrierten stern zu Beginn des Jahrs 1980 und bei einer späteren Gelegenheit vor Arbeitgebervertretern betonte. Dabei berief er sich auf seinen politischen Mentor Fritz Erler, der ihn als jungen Abgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion in den 1950er- Jahren gefördert und in transatlantische Sicherheitskreise eingeführt hatte. Gerade in anspruchsvollen politischen Lagen, so hob Schmidt mit Bezug auf den von ihm mit herbeigeführten NATO-Doppelbeschluss hervor, brauche es richtungsweisende Akteure mit ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein. Dadurch sah er weder die innerparteiliche Demokratie noch die im Grundgesetz festgelegte demokratische Gewaltenteilung in Gefahr. Zwar betrachtete Helmut Schmidt grundsätzlich Konflikte positiv und als notwendig für den Fortschritt in der Gesellschaft. Aber den innovativ-provokativen Politik- und Protestformen der sogenannten 68er, der Neuen Sozialen Bewegungen und der Partei DIE GRÜNEN, die 1983 erstmals in den Bundestag einzog, stand er ausgesprochen kritisch gegenüber. Politik wurde nach seinem Dafürhalten von Parteien und in Parlamenten gemacht und nicht auf der Straße, wo in den 1970er-Jahren die Friedens-, Anti-Atomkraft-, Umwelt- und Frauenbewegung von sich Reden gemacht hatten – durch eine unkonventionelle politische Bildsprache und kreativen Protest, verstärkt durch popkulturelle Elemente insbesondere aus dem Feld der Musik. Dementsprechend beurteilte Schmidt plebiszitäre Demokratieelemente skeptisch, da es wenig Fragen gebe, die man verkürzt mit Ja oder Nein beantworten könne. Allerdings lehnte er Bürgerbeteiligung nicht gänzlich ab, sie hatte aber nach seiner Einschätzung im engen Rahmen des repräsentativen Systems zu erfolgen. Rhetorik und Image Über die „68er“ pflegte Helmut Schmidt mit unverhohlener Abneigung zu sagen: „Sie bestreiten alles, nur nicht ihren Lebensunterhalt.“ Ebenso schneidend war seine Rhetorik als Bundeskanzler gegenüber seinen innerparteilichen Kritikern, vor allem gegen die Jungsozialisten und den linken SPD- Flügel, die sich in der Öffentlichkeit negativ über seine Sicherheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik äußerten. Dabei waren die Übergänge zu den Neuen Sozialen Bewegungen fließend. Selbstbewusst und, wie manche sagten, nicht frei von Arroganz hielt Schmidt auf dem SPD-Landesparteitag 1974 in Hamburg seinen von der marxistischen Kapitaltheorie inspirierten Widersachern entgegen: „Die Weltwirtschaft ist durch diese Verwerfungen in eine Krise geraten, die ihr nicht begreifen wollt – ihr beschäftigt euch mit der Krise des eigenen Hirns statt mit den ökonomischen Bedingungen, mit denen wir es zu tun haben.“ Ob Schmidt jemals einen Rhetorikkursus besucht oder sich als Spitzenpolitiker individuell hat coachen lassen, wie es heutzutage nicht bloß in der Bundespolitik zum Standard gehört, ist nicht bekannt. Fest steht hingegen, dass er sein politisches Talent für eine beachtliche Karriere zu nutzen wusste. Er beherrschte die Kunst der Selbstdarstellung, präsentierte sich mit großer Professionalität in den Medien und lieferte dabei jene Zitate, die es braucht, um wahrgenommen und wiedererkannt zu werden, für sich ein Image zu definieren und debattenprägend zu sein. In der Rückschau nannte Schmidt sich zuweilen einen perfekten „Staatsschauspieler“ – eine Bezeichnung, die während seiner Kanzlerschaft ursprünglich von der CDU/CSU zur Abwertung seiner politischen Leistungen aufgebracht worden war. Hielt Schmidt sich in einem Fernsehstudio auf, war ihm stets bewusst, welche Kamera gerade sendete, dann glichen Züge aus der Zigarette zuweilen einer Inszenierung. Als ein Politiker, der auf sein öffentliches Bild bedacht war, ob im Parlament, bei Wahlkampfreden oder Betriebsbesichtigungen, beherrschte er die Technik der kalkulierten Pause, baute Spannungsbögen auf, hob ihm besonders Wichtiges auf diese Weise hervor und setzte geschickt Pointen mit der Erfahrung des öffentlichen Redners. Wenn Schmidt etwa vor Fabrikarbeitern in Hamburg sprach, verfiel er ins Plattdeutsche und passte sein Sprachniveau der Zielgruppe an. Ebenso war er mühelos in der Lage, geschliffene Konversationen auf Englisch zu führen sowie – etwa auf dem erwähnten Kant-Kongress – höhere sprachliche Register zu bedienen. Wer bei Schmidt im Bundeskanzleramt als Redenschreiber arbeitete, der lernte rasch, worauf es dem Kanzler bei seinen öffentlichen Auftritten ankam: Gefordert war eine klare Sprache, die Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit ausstrahlen und möglichst niemanden verprellen sollte. Es ging Schmidt darum, seine Zuhörerschaft von der Richtigkeit seiner Politik zu überzeugen und Vertrauen in seine Führungsstärke und Problemlösungskompetenz zu vermitteln. Vor wichtigen Reden wie Regierungserklärungen und zentralen Wahlkampfauftritten bat der Bundeskanzler ausgewählte Persönlichkeiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, zum Beispiel den mit ihm befreundeten Schriftsteller Siegfried Lenz, passende inhaltliche Anregungen und Textversatzstücke beizusteuern. Fast jede Rede wurde von Schmidt mit seinem grünen Stift redigiert, und im Dialog mit seinem Redenschreiberteam rang er um die bessere Formulierung und treffende politische Aussage.
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1