42 Weg in die Politik Eine Parteizugehörigkeit war Schmidt nicht in die Wiege gelegt worden. In der Kleinbürgerfamilie, der er entstammte, sorgte vor allem der Vater dafür, dass er von der Politik ferngehalten wurde. Nach seinem Kriegsdienst geriet er für fünf Monate in britische Gefangenschaft. Dort schloss er sich einem Kreis um Hans Bohnenkamp an. Dieser, ein religiöser Sozialist, hatte sehr großen Eindruck auf ihn gemacht und wurde zu seinem Mentor. So wurde aus dem „damaligen unklaren Antinazi Helmut Schmidt“ ein „bewusster Sozialdemokrat“ – so seine retrospektive Einschätzung in einem Brief an den Parteikollegen und Journalisten Fritz Sänger von August 1978. Anfang Mai 1946 füllte Schmidt einen Aufnahmeantrag für die SPD aus. Den ersten Distriktabend der SPD in seinem Wohnbezirk Hamburg-Neugraben fand er „recht erfreulich“, wie er unter dem 13. Juli 1946 in seinen Kalender notierte. Vier Wochen später wurde er nach einem Vortrag über Jugendfragen zum Vorsitzenden der dortigen Jungsozialisten gewählt. In den folgenden Wochen fuhr er mit der Gruppe in das in der Lüneburger Heide gelegene Bispingen und hielt den ersten Gruppenabend ab. Zweifellos hatte Schmidt dort vor Ort Erfahrungen sammeln können, die ihm halfen, als er sein politisches Engagement auf die Hamburger Gruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) ausdehnte, die sich schon Ende 1945 zusammengefunden hatte. Im Juli 1946 lernte der Student der Volkswirtschaft die Gruppe kennen und diese ihn. In der Erinnerung ehemaliger Mitglieder tauchte er „urplötzlich“ und „wie aus dem Nichts“ auf und wurde wegen seiner „rednerischen Fähigkeiten“ und weil er „erwachsener als die meisten anderen wirkte, bald zur unumstrittenen Führungsfigur in der Gruppe“. Nach einer vierjährigen Tätigkeit für die Hamburger Wirtschaftsverwaltung wurde Schmidt im September 1953 in den Bundestag gewählt. Mit Fritz Erler arbeitete er in Fragen der Einordnung der entstehenden Bundeswehr in das Grundgesetz besonders eng zusammen. Wie stark die Berührungsängste innerhalb der SPD-Fraktion gegenüber der Bundeswehr waren, zeigte die Reaktion auf Schmidts Wehrübung als Reservist im Herbst 1958: Bei den Wahlen zum Fraktionsvorstand verlor er im November des Jahrs seinen Sitz. Dennoch zog er sich keineswegs in ein Schneckenhaus zurück – denn auch in Partei und Fraktion blieben seine Energie und seine konkreten Ideen gefragt. Im November 1961 nahm er das Angebot des Ersten Bürgermeisters seiner Vaterstadt Paul Nevermann an, als Polizeisenator eine einheitliche Innenbehörde aufzubauen. Die Erkenntnisse aus der Hamburger Flutkatastrophe zwei Monate später, die über dreihundert Menschen in den Tod riss, beschleunigten den Aufbau der Behörde. Der SPIEGEL, der Schmidt am 6. März 1962 in übertreibender Manier zum „Herrn der Flut“ erhob, trug dazu bei, den neuen Innensenator auf nationaler Ebene mit dem Charisma des Lenkers auszustatten, der dem Chaos Einhalt gebot. Bonner Republik Schmidt hatte nach der Bundestagswahl 1965 dem Druck der SPD-Spitze nachgegeben, in den Bundestag zurückzukehren. Wie notwendig Schmidts geistige Präsenz und Überzeugungskraft in Bonn waren, zeigte sich wenig später. Für den Dortmunder Parteitag im Juni 1966 entwarf er eine Entschließung zur Deutschlandpolitik unter sich ändernden weltpolitischen Bedingungen und erläuterte diese in einer zweistündigen Rede. Die Entschließung steckte den Rahmen ab, in dem während des folgenden Jahrzehnts die Ost- und Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Koalition stattfand. Am 22. Februar 1967 starb Fritz Erler im Alter von 53 Jahren an Leukämie. Bei der Wahl zu seinem Nachfolger als Fraktionsvorsitzender drei Wochen später erhielt Schmidt mit 121 von 144 abgegebenen Stimmen – wegen der schwachen Beteiligung – ein schlechtes, wenngleich ehrliches Ergebnis. Bereits in den ersten Monaten ging es darum, politische Schwelbrände, wie sie durch die Kohlekrise an Rhein und Ruhr entstanden waren, so schnell wie möglich auszutreten. Als im Oktober 1967 die Stilllegung von Zechen angekündigt wurde, entwarf Schmidt eine 18 Seiten lange Skizze zur Kohlen- und Ruhrproblematik, die in der Fraktion große Zustimmung fand, und die auch Karl Schiller als Bundeswirtschaftsminister – nach vorheriger eingehender Diskussion – berücksichtigte. Mitten in einer an Schärfe zunehmenden Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften über die Notstandsverfassung konnte Schmidt so zeigen, dass er überall da, wo existenzielle Interessen von Arbeitnehmern direkt bedroht waren, diese vehement verteidigte. In der Frage der Notstandsverfassung hatte Schmidt ein schwieriges, teilweise – bezogen auf die politische Atmosphäre – vergiftetes Erbe übernommen. Das Misstrauen gegen jede Einschränkung der Grundrechte der Arbeitnehmer war besonders bei den Gewerkschaften, die noch unter dem Trauma ihrer kampflosen Kapitulation im Mai 1933 vor dem NS-Regime litten, sehr groß. Trotz erheblichen Widerstands in der Fraktion gelang es Schmidt, dass deren große Mehrheit – über 75 Prozent – der Notstandsverfassung zustimmte. Wie sehr in seiner Politik gegenüber den Gewerkschaften die Dialektik von Konflikt und Integration dominierte, zeigte sich auch in der von ihm geführten Kommission zur Ausweitung der Mitbestimmung, die seit Frühjahr 1968 tagte. Es ging ihm vor allem um soziale Fortschritte an der Basis, um Mit- und Selbstbestimmung des einzelnen Arbeitnehmers an seinem Arbeitsplatz sowie um den Ausbau der Rechte der Betriebsräte. Mit auf seine Initiative hin konnte am 12. Juni 1969 im Bundestag die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter beschlossen werden. Das bedeutete für Schmidt einen „entscheidenden Durchbruch auf dem Wege vom überholten Kasten- und Klassendenken zu einer offenen Leistungsgesellschaft“, wie es in einem Informationsbrief der SPD-Bundestagsfraktion von Juli 1969 hieß. In der neuen sozial-liberalen Koalition seit Herbst 1969, in der Schmidt das Amt des Verteidigungsministers übernommen hatte, sollte auf dem Feld der inneren Reformen neben der Bildungs- vor allem die Gesellschaftspolitik im Mittelpunkt stehen. Der Parteitag in Saarbrücken im Frühjahr 1970 beschloss eine Kommission unter dem Vorsitz von Schmidt, die ein „langfristiges gesellschaftspolitisches Programm“ erarbeiten sollte. Das Dilemma, in dem die Kommission steckte, lag schon im Auftrag: Die Erarbeitung eines solchen Programms sollte nicht nur innerparteilich integrierend wirken, sondern dem Wählerpublikum insgesamt sicheren Fortschritt garantieren. Denn das Streben nach Sicherheit dominierte die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Der im Mai 1972 präsentierte Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1973 bis 1985 schritt einen thematisch weiten Bogen ab: von der Wirtschafts- bis zur Agrarstruktur, die Vermögensbildung, die Staats- und Verwaltungsorganisation, die Rolle des Parlaments und der Parteien, die Massenmedien und die
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1