Leseprobe

43 Mitbestimmung bis zur Förderung von Wirtschaft und Technologie. Ein Ansporn für die Mitarbeit war für Schmidt vor allem die Überzeugung, an einem Pionierunternehmen teilzunehmen. Die Bundestagswahl am 19. November 1972 brachte mit ihrem Ergebnis von 45,8 Prozent für die SPD und 8,4 Prozent für die FDP der Koalition eine sichere Mehrheit ein. Schon am Tag danach rief Willy Brandt im Parteivorstand Schmidt „zum ersten Mann der SPD im Kabinett“ aus und ließ dies sogleich auch der Öffentlichkeit mitteilen. Dies war gut gemeint, aber ein Fehler, der seine eigene Autorität schwächte und die Schmidts nicht stärkte. Der SPD-Parteitag im April 1973 in Hannover zeigte, wie stark der linke Flügel inzwischen geworden war. Brandt erhielt bei seiner Wiederwahl als Parteivorsitzender 404 von 428 abgegebenen Stimmen. Die beiden Stellvertreter Brandts – neben Schmidt Heinz Kühn als Nachfolger Herbert Wehners – wurden von der Linken abgestraft: Für sie stimmten nur rund zwei Drittel der Delegierten. Beide verkörperten, symbolisiert durch ihre Funktion, das ungeliebte Realitätsprinzip. Schmidt hatte sich in seiner Rede mit Begriffen wie „Strategie“ und dem vermeintlich „spätkapitalistischen System“ der Bundesrepublik auseinandergesetzt und an Forderungen des Godesberger Programms wie Unternehmerinitiative und Wettbewerb erinnert. Schwerwiegend war auch die Abwahl von altgedienten Sozialdemokraten, vor allem von Carlo Schmid. Diese Zierde der Partei so schnöde zu behandeln war Ausdruck der Geschichtslosigkeit einer Generation, für die die schwierigen Jahrzehnte seit 1945 eine terra incognita waren. Kanzlerjahre Als Willy Brandt im Mai 1974 aus Anlass der Guillaume-­ Affäre seinen Rücktritt erklärte, fügte er hinzu: „Der Helmut muss das machen.“ Schmidts erste Reaktion auf das Ansinnen Brandts, ihn einmal mehr zum Nothelfer zu machen, war nach eigener Aussage „zutiefste“ Abwehr: Es sei nicht allein die Angst vor der Verantwortung gewesen, die das Amt des Kanzlers mit sich brachte. Brandts zweimaliger Ruf „gescheitert“ habe ihn gar fürchten lassen, dass Brandt alles hinschmeißen würde. Als Wehner vorschlug, Brandt solle Parteivorsitzender bleiben, und dieser damit einverstanden war, stimmte Schmidt sofort zu. Die große Mehrheit auch der linken Abgeordneten bekundete sogleich ihre Loyalität. Schien der neue Kanzler doch am ehesten geeignet, die Wiederwahl zu gewährleisten. Schmidts Arbeitskraft und Zeitbudget wurden in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft in hohem Maße von der Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise absorbiert. In der Innenpolitik konnten neben der erweiterten Mitbestimmung auch die unter Brandt begonnenen Reformen fortgesetzt werden. Allein in der Politik für die Umwelt wurden von 1975 bis 1980 sechs Gesetze zu deren Schutz verabschiedet. Die relativen Erfolge, die die Regierung Schmidt, gemessen an anderen Staaten, vor allem in der Wirtschaftspolitik vorweisen konnte, erhöhten zwar das persönliche Ansehen Schmidts, nicht aber das der SPD. Zu sehr hatten sich Meinungsführer der Partei und die an diesen orientierten Gruppen in ihr spätmarxistisches beziehungsweise ökologisch bestimmtes Weltbild eingegraben, um noch ausreichend Verständnis für die Verletzlichkeit der Bundesrepublik durch ihre außenwirtschaftliche Verflechtung sowie für den Aufwand an Zeit, Kapital und Arbeitskräften zu haben, der beim Umsteuern zum Schutz der Umwelt notwendig wurde. Vor dem Hintergrund verlorener Kommunal- und Landtagswahlen in den Jahren 1973 bis 1976 musste für die Bundestagswahl 1976 bergauf gekämpft werden. Das Ergebnis von 42,6 Prozent für die SPD war ein achtbarer Erfolg. Auch die FDP musste bei einem Ergebnis von 7,9 Prozent Verluste hinnehmen. Die Zahl der Koalitionsmandate war von 271 auf 253 gesunken. Die Koalition stolperte zu Beginn in einem besonders für die SPD sensiblen Punkt. Aufgrund der Höhe des Defizits der Rentenversicherung beschloss die Regierung nach der Wahl, eine vorgesehene Rentenerhöhung zu verschieben. Als dies durchsickerte, brach ein Sturm los. Die Presse fiel höhnend über Koalition und Kanzler her. Und die Union sprach von der „Rentenlüge“. Zum ersten Mal kündigte die Fraktion Schmidt die Gefolgschaft auf, deren Mehrheit ihm sonst immer den notwendigen Rückhalt geboten hatte. Daraufhin wurde der Koalitionsbeschluss geändert. Bei der Wahl des Kanzlers wurden für Schmidt 250 Stimmen abgegeben. Der Kanzler hatte damit nur eine Stimme mehr erhalten als Adenauer 1949. Hätte er die absolute Mehrheit verfehlt, wäre er für den zweiten Wahlgang nicht mehr angetreten. Noch mehr als drei Jahrzehnte danach erklärte er in einer Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Marburg am 22. Februar 2007, dass ihn der moralische Vorwurf der „Rentenlüge“ stärker getroffen habe als „später die emotionalen Vorwürfe der sogenannten Friedensbewegung“. Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, dass er auf dem Feld der Friedenserhaltung und der Abrüstung mehr Recht behielt als seine Kritiker. 1987 beschlossen der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und der US-­ amerikanische Präsident Ronald Reagan die Abrüstung einer ganzen Kategorie von Waffensystemen – der SS-20 auf sowjetischer Seite sowie der US-amerikanischen, in Westeuropa stationierten Pershing II und der Marschflugkörper vom Typ

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