44 Tomahawk. Damit endete ein zehn Jahre langer Kampf, der von Schmidt in seiner Londoner Rede am 28. Oktober 1977 als erster westlicher Politiker aufgenommen wurde, nachdem bekannt geworden war, dass Moskau seit 1975/76 begonnen hatte, neue zielgenaue Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 zu stationieren. Warum mischte sich Schmidt als Regierungschef einer europäischen Mittelmacht, die auf die Produktion von Atomwaffen verzichtet hatte, in den „Atompoker“ der Weltmächte ein? Die Regierungen in Washington und Moskau hatten sich darauf geeinigt, dass nur solche Waffensysteme den SALT-Abkommen (Strategic Arms Limitation Talks) unterliegen sollten, die jeweils das Territorium der anderen Weltmacht erreichen konnten. Die „eurostrategischen“ SS-20 konnten auch die nicht atomar bewaffneten Staaten in Westeuropa bedrohen, das heißt in Krisenfällen politisch erpressen. Anfang 1979 trafen sich die Chefs der drei westlichen Atommächte auf der Karibikinsel Guadeloupe. Als einziger Vertreter eines nicht atomar bewaffneten Lands war Schmidt eingeladen worden. Der dort entwickelte Ansatz, notfalls auf westlicher Seite Waffen mit ähnlicher Wirkung zu stationieren, um in Rüstungskontrollverhandlungen Druck auf Moskau zum Abbau der SS-20-Systeme auszuüben, wurde im Dezember 1979 zum Doppelbeschluss der NATO. Innerparteiliche Gegner Schmidts wie Erhard Eppler sprachen oft von der „Erblast“, die Schmidt als Kanzler für die SPD hinterlassen habe. Das stimmt eher umgekehrt – vor allem in einer Hinsicht: Er huldigte nicht dem Zeitgeist eines einseitigen Atompazifismus, dem sich große Teile der Friedensbewegung hingegeben hatten und der schließlich auch die Mehrheit der SPD erfasste. Das mangelnde Verständnis dafür, dass militärische Macht und die Möglichkeit mit ihr zu drohen nicht verrechenbar war mit anderen Machtfaktoren der Politik, verband sich mit dem überzogenen Mythos des Erfolgs der Ost- und Friedenspolitik zu Beginn der 1970er-Jahre, der bis vor kurzem die Politik der SPD gegenüber Russland prägte. Bilanz Der NATO-Doppelbeschluss war nicht entscheidend für das Ende der Koalition von SPD und FDP. Die wachsenden Unterschiede in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gaben letztlich den Ausschlag. Die mangelnde Unterstützung vonseiten Brandts in der Frage des Doppelbeschlusses führte zu einer gewissen Distanz zwischen den beiden Politikern, die aber spätestens nach dem Fall der Mauer ein Ende fand. Das Unverständnis der „Enkel“ Brandts – Nachäfferei der Marotte Helmut Kohls, sich als politischer „Enkel“ Adenauers zu stilisieren – für die Vereinigung brachte beide wieder näher zusammen. In Schmidts letzter Rede im Bundestag am 10. September 1986, mit der er von der Politik als Beruf, den er 33 Jahre lang ausgeübt hatte, Abschied nahm, kam er nicht nur auf seinen ersten Mentor Hans Bohnenkamp zurück, der seine Erziehung „zum bewussten Demokraten und Sozialdemokraten eingeleitet“ habe. Er betonte auch, wie notwendig politische Führung sei: „Wir Deutschen bleiben ein gefährdetes Volk, das der politischen Orientierung bedarf“. Er führte dies auch auf die damals bestehende Teilung zurück, die immer wieder die Gefahr mit sich bringe, „dass die ohnehin gegebene deutsche Neigung zum gefühlsmäßigen Überschwang gefährlich durchbricht“. Um dieser Sorge zu begegnen, die Schmidt auch nach der Vereinigung in den folgenden Jahrzehnten bis zum Tod begleitete, war er als Autor und Herausgeber der ZEIT selbst zu einem großen Mentor geworden, der mit „abwägender Vernunft“ nicht nur seiner Partei, sondern uns Deutschen politische Orientierung gab. Hartmut Soell
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