77 Die Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) macht deutlich, dass terroristische Gruppen in der Regel nicht isoliert, sondern im Kontext breiterer Protestbewegungen auftreten. Nach deren Scheitern wählen einige Akteure und Akteurinnen den Weg in den Untergrund, um nicht die Legitimation des Staats anerkennen zu müssen. Insoweit geht es nicht mehr um symbolische Protestformen gegen das staatliche Gewaltmonopol oder um die Infragestellung der Herrschaftsstruktur, sondern um die prinzipielle Negierung und Zerstörung des Systems. Die Aktionen der RAF sollten eine vorrevolutionäre Situation schaffen, um insbesondere drei Ziele zu erreichen: erstens den Staat durch gewaltsame Aktionen als repressive Institution zu „entlarven“, zweitens die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu untergraben und drittens die soziale und moralische Verbundenheit der Bevölkerung mit Staat und Gesellschaft aufzubrechen und zu zerstören. Der Staat sollte zu Überschreitungen und zur Aufgabe der geltenden rechtlichen Prinzipien provoziert werden, um Teile der deutschen Bevölkerung für einen Umsturz zu mobilisieren. Mit dieser Intention wurden konspirative Unterkünfte angemietet, Terrorismus Waffen und Sprengstoff durch Betrug und Diebstahl beschafft, Urkundenfälschungen, Banküberfälle, Entführungen durchgeführt und Tötungsdelikte begangen. Die RAF konfrontierte nicht nur den Bundeskanzler und seine Regierung, sondern auch die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden mit einem neuen Phänomen, das es zuvor in der Bundesrepublik nicht gegeben hatte. Für Helmut Schmidt war der bundesdeutsche Terrorismus eine der größten Herausforderungen in seiner Amtszeit. Damit ist fast zwangsläufig die Frage verknüpft, mit welchen Mitteln die Bundesregierung antworten sollte. Die Auseinandersetzungen zwischen RAF und Staat um die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland entwickelten sich zur Richtschnur für staatliches Handeln. Von der Bundesregierung und der Opposition, staatlichen Instanzen und Medien wurde die RAF, wenn auch in unterschiedlichen Ausformungen, schon relativ früh als wachsende Bedrohung eingeschätzt. Bereits am 15. Februar 1971 hatte der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) in der BILD öffentlich davor gewarnt, „diese Verbrecher in irgendeiner Weise zu unterstützen“. Am 29. November 1974 – also vor Beginn des Hauptverfahrens gegen die führenden RAF-Mitglieder Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe – wurde in der von der Bundesregierung herausgegebenen Dokumentation über die Tätigkeit anarchistischer Gewalttäter unterstrichen, dass die Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe den radikalen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik anstreben würden. Nach Ansicht des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß habe die Baader-Meinhof-Gruppe dem Rechtsstaat einen Krieg erklärt, für dessen Dimension es in der Bundesrepublik keine rechtlichen Vorschriften gebe. Seitens der terroristischen Gruppen wurden, wie auch von politischen Repräsentanten und Medien, Kriegsmetaphern und Kriegsszenarien verwendet, sodass immer häufiger von einem „Krieg“ zwischen RAF und Staat gesprochen wurde. Angesichts der Eskalation der Gewalt in der bundesdeutschen Gesellschaft erklärte der damalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) in der Bundestagsdebatte am 28. Oktober 1977, der staatliche Abwehrkampf gelte einem „frontalen Angriff gegen unseren Staat“. Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte bereits in seiner Regierungserklärung im Bundestag am 13. März 1975 hervorgehoben, dass die Bundesregierung für die volle Ausschöpfung der rechtsstaatlichen Gewalt eintrete. Da gegen Terroristen und Terroristinnen zwei wesentliche Grundgedanken des Strafrechts versagen würden, nämlich Abschreckung und Resozialisierung, bleibe nur der dritte Grundgedanke des Strafrechts: die Sicherung. „Das heißt, wir müssen sie hinter Schloss und Riegel bringen.“ Bereits an dieser Stelle wird die Vorgehensweise von Helmut Schmidt deutlich, nämlich diese politischen Konflikte mit den Mitteln des Strafrechts zu lösen.
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