Leseprobe

78 Fahndungsdruck und Eskalationsspirale Schon vor der großen Fahndungsaktion im Mai 1972 wurden die Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe zum „Staatsfeind Nr. 1“ erklärt und in ihren Aktionen die Staatskrise gesehen, die es mit der streitbaren Demokratie bis an die Grenzen des Rechtsstaats abzuwehren galt. Die Debatten in der Zivilgesellschaft über die RAF, an der sich maßgebliche Politiker bis hin zum Bundeskanzler beteiligten, führten zu Kontroversen über den Zustand der Bundesrepublik. In diesem Kontext sei exemplarisch an die Diffamierung des Schriftstellers Heinrich Böll erinnert, als er in einem Artikel des SPIEGEL vom 9. Januar 1972 das Vorgehen gegen die Journalistin Ulrike Meinhof öffentlich verurteilte und auf den „Krieg von 6 gegen 60 000 000“ hinwies. Aber nicht nur SchriftstellerInnen wurden angegriffen. Die Pressekampagnen richteten sich auch gegen etliche WissenschaftlerInnen, gegen TheologInnen, SoziologInnen oder JournalistInnen, überhaupt gegen Personen, die für eine Differenzierung der bundesdeutschen Terrorismusdiskussion eintraten. Eine Zäsur in der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF bedeutete der Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins – er starb am 9. November 1974 an den Folgen eines 54-tägigen Hungerstreiks in der Strafanstalt Wittlich. Bereits im Januar 1973 hatten die RAF-Inhaftierten ihren ersten kollektiven Hungerstreik durchgeführt, bis 1975 folgten weitere. Diese Hungerstreiks stellten eine wichtige Rekrutierungsbasis für die sogenannte zweite und dritte Generation der RAF dar. Ab 1974 war die Strategie der Terroristen und Terroristinnen darauf gerichtet, ihre inhaftierten Mitglieder zu befreien. Dass die Konflikte eskalierten, belegt der Überfall des „RAF-Kommandos Holger Meins“ am 24. April 1975 auf die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm. Es forderte die Freilassung von 26 inhaftierten RAF-Mitgliedern, nahm zwölf Geiseln und ermordete die Botschaftsattachés Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart. In einem Telefongespräch mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme machte Bundeskanzler Schmidt noch am gleichen Tag deutlich, dass Regierung und Opposition sich einig seien, die RAF-Mitglieder nicht auszuliefern. Anders als bei der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz im Februar 1975 vertrat Schmidt jetzt eine harte Linie und richtete sich gegen jegliche Verhandlungen mit terroristischen Gruppen. Auch in der Forschungsliteratur wird hervorgehoben, dass es Helmut Schmidt war, der während der Botschaftsbesetzung in Stockholm im Frühjahr 1975 die Exekutive auf strikte Unnachgiebigkeit gegenüber Forderungen der RAF festlegte und diesen Kurs auch im „Deutschen Herbst“ 1977 durchsetzte. Das Jahr 1977 bildete den Höhepunkt der Konfrontationen, in dem das „RAF-Kommando Ulrike Meinhof“ am 7. April in Karlsruhe den Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine Begleiter Wolfgang Göbel sowie Georg Wurster tötete. Beim Staatsbegräbnis für Buback in der Evangelischen Stadtkirche in Karlsruhe führte Schmidt am 13. April aus, dass die Schüsse nicht nur gegen den Generalbundesanwalt gerichtet waren, sondern dem gesamten Rechtsstaat galten. Am 30. Juli wurde der Sprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto nach einem gescheiterten Entführungsversuch von einem RAFKommando in seinem Haus in Oberursel erschossen. Am 5. September entführte die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer in Köln. Bei dem Überfall wurden sein Chauffeur Heinz Marcisz und seine Leibwächter Reinhold Brändle, Helmut Ulmer und Roland Pieler getötet. Die Entführer forderten mit ihrer Aktion die Freilassung von elf RAF-Mitgliedern, unter anderen der RAF-Gründungsmitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe. Am Abend der Entführung machte Schmidt in einer Fernseh-Erklärung für ARD und ZDF deutlich: „Vier tote Bürger unseres Staates verlängern seit heute Abend die Reihe der Opfer von blindwütigen Terroristen, die, wir waren uns darüber stets im

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