79 Klaren, noch nicht am Ende ihrer kriminellen Energie sind […]. Die blutige Provokation in Köln richtet sich gegen uns alle. Wir alle sind aufgefordert, den staatlichen Organen beizustehen, wo immer das dem einzelnen möglich ist“. Unmittelbar danach rief Schmidt den großen Krisenstab („Großer politischer Beratungskreis“) ein. Dieser setzte sich aus dem Bundeskabinett, den Vorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien und den Vertretern derjenigen Bundesländer zusammen, in denen Mitglieder der RAF inhaftiert waren. Nach der konstituierenden Sitzung formulierte der Bundeskanzler als Beratungsergebnis, dass die Geisel Hanns Martin Schleyer lebend befreit sowie die Entführer gefasst und vor Gericht gestellt werden sollten. Die Handlungsfähigkeit des Staats und das Vertrauen in ihn dürfe nicht gefährdet noch die gefangenen RAF-Mitglieder ausgetauscht werden. Die Durchsetzung einer harten, unnachgiebigen staatlichen Position sollte in den folgenden Wochen der Schleyer-Entführung eine zentrale Rolle spielen. Die angespannte Situation zeigte sich exemplarisch in der öffentlichen Frage des CSU-Mitglieds Walter Becher in einem Beitrag des SPIEGEL vom 11. September 1977, „ob man sich nicht tatsächlich mit den Terroristen ‚im Krieg befindet‘“ und „ob nicht der Staat auf Geiselnahme und Geiselerschießung mit gleichen Mitteln antworten müsse“. Nach dessen Auffassung solle bei weiterer Eskalation des Terrors mit den Häftlingen von Stammheim „kurzer Prozess“ gemacht werden. Noch deutlicher formulierte es sein Vorsitzender Franz Josef Strauß einige Monate später in der von der parteinahen Hanns-Seidel-Stiftung herausgegebenen Publikation Gegen den Terror. Demnach seien „die Terroristen […] keine Täter, die mit dem normalen Strafrecht – vom Diebstahl bis zum Mord, von Betrug bis zur Erpressung – zu umreißen und zu erfassen sind. Auf die Dauer geht es nicht an, dass der Rechtsstaat schwächer ist als seine Erzfeinde“. Demokratie erfordere „Wehrhaftigkeit“, der Rechtsstaat müsse endlich Zähne bekommen und wenn notwendig seine Gegner „unschädlich“ machen. Eine Militarisierung der Denkweise setzte sich durch und prägte das Verhalten, verbunden mit einem Vokabular, das mehr militärischen als polizeilichen Denkkategorien entsprach. Bereits einige Tage nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten war offensichtlich, dass der Austausch der Geisel nicht forciert wurde, sondern die Bundesregierung auf Zeit setzte. Dem Bundeskanzler ging es darum, die Nichterpressbarkeit des Staats zu dokumentieren. Um die schwerwiegenden Entscheidungen durch parteiübergreifenden Konsens politisch abzusichern, wurde die Opposition im Krisenstab eingebunden, der während der Schleyer-Krise ein- bis zweimal wöchentlich tagte. Darüber hinaus gab es den kleinen Krisenstab („Kleine Lage“), bestehend aus Helmut Schmidt mit seinen Vertrauten, der fast täglich zusammentraf. Immer stärker kristallisierte sich die Taktik des Bundeskanzlers heraus, den Forderungen der RAF mit den Mitteln eines starken Staats entgegenzutreten. Die Frage erscheint berechtigt, in welchem Maße Schmidts hartes Durchgreifen einer gewissen Offiziersmentalität geschuldet war, zumal er als Wehrmachtsoffizier in der NS-Zeit geprägt wurde. Schon am 30. September 1977 reagierte die Legislative auf den Entführungsfall von Hanns Martin Schleyer mit dem „Kontaktsperregesetz“. Innerhalb von drei Tagen wurde es von Bundestag und Bundesrat beschlossen, vom Bundespräsidenten unterzeichnet und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und war somit das schnellste Gesetz in der Rechtsgeschichte nach 1945. Monate später führte Schmidt in der Bundestagsdebatte am 15. Juni 1978 aus: „Ich glaube, dass wir bis an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen sind […] Wir haben sogar in der Gesetzgebung […] mit dem Kontaktsperregesetz ein rechtsstaatliches Risiko in Kauf genommen, das Gott sei Dank durch das Bundesverfassungsgericht anschließend gerechtfertigt worden ist.“ Am 13. Oktober 1977 wurde die Lufthansamaschine „Landshut“ auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt durch ein vierköpfiges palästinensisches Kommando entführt, was zu einer weiteren Verschärfung des Konflikts führte. Nicht nur die Familie Schleyer kritisierte das Vorgehen des Staats, es gab auch skeptische Stimmen in der Zivilgesellschaft. Ungeachtet dessen blieb Schmidt bei seiner Taktik des Zeitgewinnens. Um das Leben seines Vaters zu retten, beantragte Hanns-Eberhard Schleyer am 15. Oktober 1977 eine einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht. Die Bundesregierung sollte gezwungen werden, den Forderungen der RAF – Austausch der Geisel gegen inhaftierte RAF-Mitglieder – nachzukommen. Nach Ansicht des Sohns habe die Bundesregierung eine elementare Aufgabe zu erfüllen, nämlich das konkret gefährdete Leben eines Bürgers zu schützen. Da alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft worden seien und es nicht gelungen sei, das Leben des Vaters auf andere Weise zu retten, bleibe keine andere Option mehr, als den Forderungen der Terroristen nachzugeben. Am 16. Oktober 1977 wurde der Antrag abgewiesen. Damit war der letzte Versuch der Familie Schleyer, das Leben des Arbeitgeberpräsidenten zu retten, gescheitert. Die FlugzeugentführerInnen, die die sofortige Freilassung der RAF-Inhaftierten verlangten, erschossen in Aden/Jemen den „Landshut“-Kapitän Jürgen Schumann. Einige Tage später, am 18. Oktober 1977, wurde die Maschine auf dem Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadischu durch ein „GSG 9“- Kommando (Grenzschutzgruppe 9, heute Spezialeinheit der deutschen Bundespolizei) gestürmt und sämtliche Passagiere befreit. Drei der EntführerInnen wurden erschossen. Noch in der Nacht begingen die RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe Selbstmord in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim. Die Leiche von Hanns Martin Schleyer wurde am 19. Oktober 1977 im Kofferraum eines Autos im elsässischen Mülhausen gefunden. Jahrzehnte später, am 26. April 2013, bekannte Schmidt in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt, dass er trotz aller Bemühungen am Tod Hanns Martin Schleyer mitschuldig sei, denn „theoretisch hätten wir auf das Austauschangebot der RAF eingehen können“.
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