Leseprobe

114 Drei Problemfelder Erstens war bekannt, dass der sozial-liberalen Koalition eine „Ausdehnung des Staatskorridors“ vorschwebte. Zwar blieb der Plan einer großen Steuerreform zunächst im politischen Alltag stecken. Aber auf dem linken Flügel der SPD gab es viele Stimmen, die für höhere Steuern plädierten – besonders für Reiche und Unternehmen. Diesseits sozialistischer Utopien verschlang Reformpolitik viel Geld: Steuergeld, aber auch zusätzliche Staatsschulden. Alex Möller hatte vor seinem Rücktritt gegrummelt, die sozial-liberale Koalition benehme sich wie eine Kompanie, die mit der Kriegskasse durchgebrannt sei. Nüchterner ausgedrückt war die Finanzpolitik dauerhaft expansiv; deshalb trug sie zur Geldentwertung bei. Zweitens hatte auch der Bundeskanzler einen Anteil am Scheitern seiner Finanzminister gehabt. Willy Brandts Hauptaugenmerk lag auf der Außenpolitik, besonders auf den Ostverträgen. Wirtschaft und Finanzen sah er lediglich als Voraussetzung der Reformpolitik. Das Desinteresse des Kanzlers aber schwächte den Finanzminister. Schmidt hatte dies beim Ringen um den Verteidigungsetat weidlich genutzt und so dazu beigetragen, die Position seiner beiden Amtsvorgänger zu untergraben. Hinzu kam, dass die SPD über die Eckpunkte der Reformpolitik stritt, und nicht nur Schmidt blickte skeptisch auf linke „Glaubensgewissheiten“, die er bei den Jusos erblickte. Aus Schmidts Sicht machten die Ideen der Jungsozialisten die Partei für viele Bürger unwählbar; Brandt hingegen wollte sie einbinden. Diese Bruchlinie hatte schon der „Steuerparteitag“ in Saarbrücken vom November 1971 offen zutage treten lassen; bei der Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitz ließen die Jusos den 31-jährigen Norbert Gansel gegen Schmidt antreten. Gesundheitlich angeschlagen, fühlte dieser sich im politischen Bonn und auch in seiner Partei inzwischen „reichlich allein“, wie er Marion Gräfin Dönhoff im Februar 1972 anvertraute. Nach Schillers Rücktritt ließ er sich von Brandt zwar als „Superminister“ in die Pflicht nehmen. Aber er stieß den Kanzler vor den Kopf, als er zugleich erklärte, lediglich bis zur Bundestagswahl zur Verfügung zu stehen. Brandts nachgiebiger Kurs gegenüber den Linken drohe die Partei dauerhaft zu spalten. Drittens schließlich war Schmidt bewusst, dass ihm nun auch die Zuständigkeit für jene Währungskrise zufiel, die an der politischen Zermürbung seiner Vorgänger so großen Anteil gehabt hatte. Erst seit 1958 war die Bundesrepublik vollgültiges Mitglied im westlichen Währungssystem, das 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods geschaffen worden war. Dieses hatte die USA ganz ins Zentrum gerückt; zwischen dem mit Gold unterlegten Dollar und den übrigen Währungen galten feste Wechselkurse, ebenso zwischen Währungen wie der D-Mark, dem Pfund Sterling oder dem Franc. Feste Kurse schufen Planungssicherheit und waren populär. Über die Jahre allerdings verfestigten sich Ungleichgewichte: Wuchs eine Volkswirtschaft besonders rasant oder fiel sie bei der Produktivität zurück, wären eigentlich Anpassungen der Wechselkurse nötig geworden. So geriet die D-Mark schon in den frühen 1960er-Jahren unter Aufwertungsdruck, ebenso der japanische Yen. Andere Währungen, etwa das britische Pfund oder der Dollar, hätten eigentlich abwerten müssen. Über die Wechselkurse entschied damals aber nicht der Markt, und weil eine Aufwertung der D-Mark deutsche Exportprodukte für ausländische Käufer verteuerte, waren diese Entscheidungen politisch umkämpft. Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften hielten einmütig dagegen. Weil Anpassungen über kurz oder lang aber unvermeidlich waren, luden die Ungleichgewichte zur Währungsspekulation ein. In der Endphase des Bretton-Woods-Systems kamen diese Zutaten alle zusammen: Die Ankerfunktion des Dollar stand infrage, weil den USA die Kosten des Vietnamkriegs über den Kopf wuchsen. Präsident Richard Nixon erklärte die Golddeckung im August 1971 für beendet. Wiederkehrende Spekulationswellen setzten die westlichen Regierungen so sehr unter Druck, dass mal mit der völligen Freigabe der Wechselkurse experimentiert wurde (Floating), mal mit gespaltenen Kursen (etwa zwischen Güter- und Finanzmärkten), mal mit bürokratischen Instrumenten (Kapitalverkehrskontrollen). Das Ergebnis jedoch war immer dasselbe: Gegen die Märkte ließen sich die Wechselkurse nicht dauerhaft verteidigen, und die Währungskrise heizte im Verbund mit spekulativen Kapitalströmen die Inflation im Inland immer weiter an. „Superminister“, Wahlkampf, Währungskrise Schmidt übernahm das „Superministerium“ mitten im Wahlkampf. Nach dem konstruktiven Misstrauensvotum vom April stand im November 1972 eine vorgezogene Bundestagswahl an, und neben der Ostpolitik war Stabilität das wohl wichtigste Wahlkampfthema. Paradoxerweise ermöglichte dies geräuschlose Haushaltsberatungen: Schmidt wusste, dass sich die Koalition die dritte Demontage eines Finanzministers kaum würde leisten können. Bald nach Amtsantritt hatte er sich provozierend deutlich positioniert. „Mir scheint, dass das deutsche Volk – zugespitzt – fünf Prozent Preisanstieg eher vertragen kann als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“, verkündete der Minister in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Juli 1972: „Schon drei Prozent Arbeitslosigkeit würden für die Bundesrepublik unerträglich sein.“ Darin spiegelte sich die Lebenserfahrung des 1918 Geborenen, der die Weltwirtschaftskrise miterlebt hatte. Auch der Schock des Jahrs

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