Leseprobe

115 1966 saß damals noch allen in den Gliedern. Eine Wachstumsdelle und der leichte Anstieg der Arbeitslosigkeit hatten genügt, um die Regierung von Ludwig Erhard (CDU) zu Fall zu bringen und Rechtsradikale in mehrere Landtage einziehen zu lassen. Vor allem demonstriert das Schmidt-Zitat, wie fest der Finanz- und Wirtschaftsminister zu dieser Zeit noch auf dem Fundament keynesianischen Denkens stand: Auf den Staat kam es an; dieser hatte planend und steuernd einzugreifen – idealerweise so, dass er extreme Ausschläge der Konjunktur dämpfte, indem er im Boom die Steuern erhöhte oder in der Krise mit zusätzlichen Ausgaben gegensteuerte. In den Instrumentenkasten des Keynesianismus gehörte auch die Überzeugung der „Phillips-Kurve“, wonach Politiker zwischen zwei Alternativen zu wählen hatten: entweder Lohn- und Preissteigerungen oder steigende Arbeitslosigkeit. Dass es in Wirklichkeit komplizierter war, wusste man auch im Wirtschafts- und Finanzministerium. Spätestens im Spätsommer 1972 sahen Schmidt und seine Spitzenbeamten in der Geldentwertung das eigentliche Risiko. Und die Dollarkrise beschleunigte nicht nur die Inflation. Binnen drei Jahren verteuerten sich die deutschen Exporte nominell um etwas mehr als ein Viertel. Früher oder später drohte dies auch auf den Arbeitsmarkt durchzuschlagen. Kurzfristig versuchte Schmidt, die Währungsspekulation durch bürokratische Kontrollen einzudämmen. Auf mittlere Sicht galt es jedoch, auf eine gemeinsame europäische Währungspolitik und auf mehr Unabhängigkeit vom Dollar hinzuarbeiten. Das war zwar keine Erfindung Helmut Schmidts, aber er trieb diese Idee energisch voran. Aus finanzpolitischer Sicht war die „Willy-Wahl“ vom November 1972 kein Einschnitt. Das ungeliebte „Superministerium“ war nun endgültig Geschichte, weil Hans Friderichs (FDP) das Wirtschaftsressort übernahm. Allerdings hatte Schmidt dafür gesorgt, die Abteilung Geld und Kredit sowie die Zuständigkeit für Konjunktur und Statistik beim Finanzministerium anzusiedeln – bei der europäischen Koordinierung der Währungspolitik erforderliche Kompetenzen. Und Stabilität wurde jetzt zu einem echten Problem, weil sich die Geldentwertung weiter beschleunigte. Alarmierend war besonders, dass sich die Westdeutschen an steigende Preise gewöhnten. So hatten die Gewerkschaften große Mühe, ihre Mitglieder von „wilden“ Streiks abzuhalten. Weil überall Arbeitskräftemangel herrschte, kam es jedoch immer wieder zu spontanen Arbeitsniederlegungen auch während der Laufzeit der Tarifverträge; stets kamen die Arbeitgeber den Forderungen nach. Es gab einen Bauboom, den weniger die Nachfrage nach Wohnraum, mehr aber die Angst um den Geldwert nährte: Die Anlage in „Betongold“ versprach Sicherheit, obwohl sich der Bau einer Sozialwohnung binnen drei Jahren um fast 60 Prozent verteuerte. Allein: Im System fester Wechselkurse war die Bundesbank im Kampf gegen die Inflation machtlos. Würde sie die Leitzinsen im Alleingang angehoben haben, hätte dies zusätzliches Kapital in die Bundesrepublik gelockt – mit der Folge weiterer Preissteigerungen. Welches Ausmaß diese spekulativen Kapitalflüsse erreichten, zeigte sich im Februar 1973. In einer einzigen Woche musste die Bundesbank Dollar im Wert von fast 20 Milliarden DM kaufen, um den Wechselkurs zu verteidigen – das entsprach 75 Prozent des damaligen Verteidigungsetats. Am Ende verständigte man sich auf ein europäisches „Blockfloating“: Seither bestimmt allein der Markt den Dollar-Wechselkurs; untereinander blieben die europäischen Währungen bei Festkursen, die in Bandbreiten schwankten. Stabilisierungskrise als Ausweg? Das war ein wichtiger Einschnitt. Erst der endgültige Untergang des Bretton-Woods-Systems versetzte Finanzpolitiker wie Helmut Schmidt und Geldpolitiker wie Bundesbankpräsident Karl Klasen dazu in die Lage, effektiv gegen die Inflation vorzugehen. Schrittweise hob die Bundesbank jetzt die Zinsen auf Rekordniveau: Im Juni 1973 erreichte der Diskontsatz sieben, der Lombardsatz neun Prozent. Die Bundesregierung unterstützte diesen Kurs nachdrücklich, etwa durch zwei zusätzliche Stabilitätsprogramme. Schmidts Finanzministerium erhob zusätzliche Steuern und strich Ausgaben besonders dort zusammen, wo Kürzungen private Verhaltensänderungen bewirkten. Nimmt man die Verteuerung des Exports hinzu, ergab sich ein in der Geschichte der Bundesrepublik beispielloses Bremsmanöver: Das Konjunkturklima kühlte derart rasant ab, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund schon bald über „Kurzarbeit, Entlassungen und Betriebsstillegungen“ klagte, die „sprunghaft“ zunahmen. Auch dieser Kurs folgte der Logik klarer Handlungsalternativen im Sinne der „Phillips-Kurve“: Die Gewöhnung an die Inflation sollte gebrochen werden, auch um den Preis einer Rezession. So planmäßig die Stabilisierungskrise herbeigeführt wurde, so unvorhergesehen kam dann der Ölpreisschock. Zwar war die Bundesrepublik nicht vom Lieferboykott der Organisation der arabischen erdölexportierenden Staaten im Gefolge des Jom-Kippur-Kriegs betroffen. Aber wegen des knappen Angebots vervierfachte sich der Ölpreis binnen Monaten. Billige Energie war ein wichtiges Schmiermittel der „Wirtschaftswunder“-Jahre gewesen. Wenn Kunststoffe an die Stelle von Holz und Metall traten, wenn viele Westdeutsche ihre Flugreisen buchten, wenn Zentralheizungen die Kohleöfen ersetzten und ein eigenes Auto zur Normalität gehörte – dann waren diese Wohlstandsgewinne immer auch mittelbare Folge billigen Öls. Weil auch die Industrieproduktion von Ressourcenschonung nichts wissen wollte, stellte der Herbst 1973 Gewohnheiten und Gewissheiten infrage, die sich über Jahrzehnte eingeschliffen hatten, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit. Dass es „Grenzen des Wachstums“ geben könnte und wie die westliche Lebensweise ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören drohte: Das alles war zwar bereits vor dem Ölpreisschock langsam ins Bewusstsein getreten. Erst jetzt aber veränderten sich das Lebensgefühl und die Erwartungen an die Zukunft. Die drastische Verteuerung der Energie hatte verheerende Wirkungen: Der Absatz der Automobilindustrie stürzte regelrecht ab; die Stahlkrise setzte ein; Schiffbau, Textil- und Lederindustrie – all jene Branchen, die schon unter der Aufwertung der D-Mark zu leiden gehabt hatten – brachen jetzt förmlich zusammen. Die klaren Handlungsalternativen der „Phillips-Kurve“ lösten sich in Luft auf. Stattdessen glitt man ab in die Stagflation (hohe Inflation bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit), und der keynesianischen Instrumentenkasten war leer. Unter den technokratischen Reaktionen stachen zwei hervor: Der „Anwerbestopp“ vom November 1973 verdeutlichte, dass man in den Arbeitsmigranten lediglich eine „Manövriermasse“ des Arbeitsmarkts sah. Die „autofreien Sonntage“ hingegen sollten allen Deutschen zeigen, wie sehr die Preisveränderungen an der Rohstoffbörse bald ihren Alltag verändern würden. Am 10. Januar 1974 gestanden sich Regierung, Verbände und Gewerkschaften ein, dass man sich in einer Lage befand, für die es „keine Verhaltensmuster“ gab. Schmidt sorgte dafür, dass die finanzpolitischen Bremsmanöver vom

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