Leseprobe

150 Atomkraft als Alternative zum Erdöl Der Beginn der Kanzlerschaft Schmidts stand stark unter dem Eindruck der ersten Ölpreiskrise 1973/74. Um das Öl so weit wie möglich zu ersetzen, sollten andere Energieträger ausgebaut werden. Das betraf beispielsweise die Kohle, vor allem aber die Kernenergie. Noch unter Willy Brandt und kurz vor der Ölpreiskrise hatte die Bundesregierung bereits ein Energieprogramm verabschiedet, das auf einer detaillierten Planung der zukünftigen Energieversorgung aufbaute. Es sah einen Anstieg der Kraftwerksleistung aus Kernenergie auf mindestens 40 000 Megawatt (MW) bis 1985 als notwendig an. Im Oktober 1974, ein knappes halbes Jahr nach Schmidts Amtsantritt, wurde das Programm aktualisiert. Seine Erste Fortschreibung steigerte die Ausbauziele auf 45 000 bis 50 000 MW bis 1985. Zur Einordnung: Bisher waren die elf westdeutschen Atomkraftwerke für eine Stromproduktion in Höhe von gerade einmal 2 300 MW verantwortlich. Der Kraftwerkszubau hätte eine Verzwanzigfachung der bisherigen Kapazität und ein Ansteigen des Kernenergieanteils auf knapp 45 Prozent der Gesamtstromproduktion sowie von ein auf 15 Prozent des gesamten Primärenergieverbrauchs bedeutet. Die Bundesregierung brachte zahlreiche neue Kraftwerksprojekte auf den Weg, außerdem sollte die Fertigstellung bereits geplanter Anlagen beschleunigt werden, beispielsweise in Brokdorf, Grohnde oder Wyhl. Zusätzlich zu den gängigen Leichtwasserreaktoren auf Uranbasis wurden zudem neuartige Reaktortechnologien erforscht. Besonders umstritten war der sogenannte „Schnelle Brüter“ in Kalkar: In diesem Brutreaktor sollte nicht nur Energie, sondern auch neues Spaltmaterial erzeugt werden, sodass am Ende 60 Mal mehr Kernbrennstoffe vorhanden wären als vor dem „Brutprozess“. Parallel dazu wollte die Bundesregierung die Endlagerung von Kernbrennstäben mit einer Wiederaufbereitung verbinden. Dabei sollten abgebrannte Kernbrennstäbe so behandelt werden, dass sie in nicht mehr verwertbaren radioaktiven Abfall und noch nutzbare Brennmaterialien getrennt würden. Dabei fiel unter anderem Plutonium an, das für Brennstäbe in Leichtwasserreaktoren, vor allem aber in „Schnellen Brütern“ genutzt werden konnte. Hinter einer Kombination von Leichtwasserreaktoren, Brutreaktoren und der Wiederaufbereitung stand die Vision eines quasi-regenerativen Brennstoffkreislaufs im Rahmen einer „Plutoniumwirtschaft“. In einem gemeinsamen Beschluss von Bundesregierung und Länderregierungen vom 6. Mai 1977 wurde deswegen die Endlagerung in Verbindung mit einer Wiederaufbereitungsanlage als zentraler Baustein des geplanten „Nuklearen Entsorgungszentrums“ (NEZ) festgeschrieben. Es sollte in einem Salzstock im niedersächsischen Gorleben gebaut werden. Immer größere Teile der Bevölkerung sahen die Atomkraft jedoch wegen ihrer Sicherheitsrisiken, der Gefahren für die Umwelt, der noch nicht realisierten Endlagerfrage und mangelnder Mitspracherechte äußerst kritisch. Die Proteste gegen die Atomenergie wurden seit Mitte der 1970er-Jahre immer heftiger. Einsprüche bei Genehmigungsverfahren und Klagen gegen Bauvorhaben verzögerten den Kraftwerksbau. Deswegen und da sich der Energieverbrauch in den Jahren zuvor bereits leicht von der wirtschaftlichen Entwicklung entkoppelt hatte, wurden die ursprünglichen Ausbauziele im Rahmen der Zweiten Fortschreibung des Energieprogramms vom 19. Dezember 1977 relativiert. Die Bundesregierung hielt an der grundsätzlichen Ausbaustrategie fest, die geplanten Kapazitäten wurden aber nicht mehr eindeutig beziffert. Aus den zitierten Energieprognosen ergab sich jedoch eine als notwendig erachtete Steigerung auf 24 000 MW bis 1985 und 40 000 MW bis 1995. Das entsprach in etwa einer Halbierung der bisherigen Zielwerte. Nach dem Atomunfall im Kraftwerk „Three Mile Island“ im US-amerikanischen Harrisburg am 28. März 1979 wurden die Sicherheitsvorschriften verschärft, die Ausbauziele blieben aber unverändert. Dies änderte sich auch dann nicht, als der geplante Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben scheiterte, nachdem der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) das Projekt angesichts der Atomproteste nicht mehr für umsetzbar hielt. Das Entsorgungskonzept wurde nur marginal angepasst: Neben der Wiederaufbereitung sollte auch die direkte Endlagerung erprobt werden. Die Präferenz Helmut Schmidts lag jedoch weiterhin klar auf einer Endlagerung inklusive Wiederaufbereitung. Aus seiner Sicht war es nach wie vor das „Vernünftigste“, die Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben zu bauen, wie er es einigen Chefredakteuren in einem Hintergrundgespräch am 3. Oktober 1979 anvertraute. Dem Plan, die Wiederaufbereitung notfalls auf mehrere kleinere Standorte aufzuteilen, stimmte er nur widerwillig zu. Als Alternative für Gorleben sollte die Wiederaufbereitungsanlage schließlich im bayerischen Wackersdorf gebaut werden (ein Vorhaben, das Ende der 1980er-Jahre ebenfalls scheiterte). Schmidt musste seine Ziele gegen immer größeren politischen Widerstand durchsetzen. Beispielhaft dafür standen die Auseinandersetzungen um den „Schnellen Brüter“. Schon 1977 misslang ein versuchter „Putsch“ von schleswig-holsteinischen SPD-Bundestagsabgeordneten, 1978 gab es anlässlich der Genehmigung der dritten Baustufe des „Brüters“ auch innerhalb der FDP-Fraktion potenzielle Abweichler. Sie konnten nur mit der Drohung diszipliniert werden, dass auf das Scheitern dieses Kalkar-Beschlusses der Rücktritt der FDPMinister und eine Vertrauensfrage Helmut Schmidts folgen würden. Die kritischen Teile der SPD-Fraktion erreichten im Gegenzug für ihre Zustimmung die Einrichtung einer Enquete-­ Kommission „Zukünftige Kernenergiepolitik“. Unter der Leitung des SPD-Abgeordneten Reinhard Ueberhorst veröffentlichte sie am 27. Juni 1980 einen Bericht, der vier verschiedene mögliche Energiepfade vorstellte. Dazu gehörte auch ein Energieszenario, das eine Zukunft ohne Kernenergie ermöglichen würde. Die Kommission empfahl, zunächst sämtliche Energieoptionen offenzuhalten und nach 1990 über das Schicksal der Kernenergie zu entscheiden. Angesichts der zweiten Ölpreiskrise um 1979 war Helmut Schmidt aber nicht bereit, dieser Empfehlung zu folgen. Nachdem der Ölpreis zeitweise um 250 Prozent gestiegen war, ließ

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