Leseprobe

151 er keinen Zweifel daran, dass er jede Verzögerung des Kernenergieausbaus für falsch hielt. In einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger am 17. Februar 1981 bezeichnete er es als „äußerst unwahrscheinlich“, dass ein Ausstieg aus der Kernenergie „jemals bewerkstelligt werden kann“. Am 4. Oktober 1981 verabschiedete die Bundesregierung ein Maßnahmenpaket zur beschleunigten Genehmigung von Kernkraftwerken, kurz darauf beschloss sie am 5. November 1981 eine Dritte Fortschreibung des Energieprogramms. Die Ausbauziele blieben mehr oder weniger die gleichen wie in der letzten Fortschreibung, trotz Harrisburg und der weiterhin offenen Entsorgungsfrage. Bis 1995 sollte der Anteil von Atomstrom am gesamten Primärenergieverbrauch auf 17 Prozent ansteigen. Um diese Vorgaben zu erfüllen und um den prognostizierten Bedarf von etwa 38 000 bis 39 000 Megawatt zu decken, hätten neue Atomkraftwerke mit einer zusätzlichen Leistung von 17 000 MW gebaut werden müssen. Die Atomkraft besaß zwar nach wie vor viele Unterstützer:innen, beispielsweise in den Industriegewerkschaften oder in der Wirtschaft. Alternative Energiekonzepte wurden jedoch immer populärer. Letztlich wurden die Ausbauziele des Energieprogramms zu keinem Zeitpunkt erreicht. Aufgrund des sinkenden Ölpreises und der weiteren Entkoppelung von Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum stellten sich die Energiebedarfsprognosen als zu hoch gegriffen heraus. Viele der geplanten Anlagen wurden nicht gebaut, so zum Beispiel in Wyhl, Gorleben und Wackersdorf. Teilweise wurden bereits fertiggestellte Anlagen nicht in Betrieb genommen, so beispielsweise in Kalkar. Zwar gingen während der Amtszeit Schmidts zehn neue Atomkraftwerke ans Netz, allerdings fiel nur beim Kraftwerk Grafenrheinfeld auch der Baubeginn in die Zeit seiner Kanzlerschaft. Mit der Ausnahme des Kraftwerks Isar/Ohu 2 wurden auch alle Kraftwerke, die nach 1980 in Betrieb genommen wurden, bereits vor 1975 bestellt. Protest gegen Helmut Schmidt und seine Energiepolitik Schmidts Atompolitik folgte der Maxime der Versorgungssicherheit und der Angst vor Massenarbeitslosigkeit im Fall von Energieknappheiten. Da zur gleichen Zeit die Umweltbewegung in Form von Bürgerinitiativen, Protestbewegungen und grünen Listen einen enormen Aufschwung erfuhr, waren Konflikte vorprogrammiert. Hinter den Anti-AKW-Protesten stand allerdings nicht nur die Angst vor einer Zerstörung von Mensch und Umwelt. Die Demonstrationen an großen Bauplätzen brachten auch ein Unbehagen über den Zustand der Demokratie zum Ausdruck. Wer Helmut Schmidt, wie in der eingangs zitierten Quelle, als „Atomkanzler“ bezeichnete, rekurrierte dabei auf das in der Anti-AKW-Bewegung populäre Bild des „Atomstaats“. Es wurde 1977 vom Zukunftsforscher Robert Jungk entwickelt. Er argumentierte, dass der „Atomstaat“ die endgültige Kulminierung der industriellen Moderne sei, in der sich der Mensch von seinen natürlichen Lebensgrundlagen entfremdet habe. Gestützt werde der „Atomstaat“ von den Zwangsmitteln des Staats, denn die Risiken der Atomkraft seien so groß, dass die Atomanlagen mit großem Aufwand gesichert werden müssten, was wiederum eine unabwendbare Tendenz zum autoritären Überwachungsstaat in sich bergen würde. Das massive Polizeiaufgebot bei Anti-AtomProtesten, das mit Stacheldraht und anderen Sicherheitsvorkehrungen hochgerüstete Bauplätze sicherte und in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre immer häufiger in gewaltsame Auseinandersetzungen mit militanten Protestierenden verwickelt wurde, galt als ein solches totalitäres Zwangsmittel. Zusammen mit den virulenten Diskussionen um den NATO-Doppelbeschluss und den Protesten der Friedensbewegung erschien das atomare Bedrohungsszenario umso realer. Für viele war der Bundeskanzler dafür hauptverantwortlich: Als die spätere GRÜNEN-Politikerin Petra Kelly am 17. Februar 1979 in einem

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