152 Brief an Helmut Schmidt ihren Austritt aus der SPD erklärte, bezeichnete sie ihn als „Vollzugsinstrument des Atomstaats“. Die Überschneidungen von zivilen und militärischen Bedrohungsszenarien wurden durch den geplanten Einstieg in die „Plutoniumwirtschaft“ auf der Grundlage von „Brutreaktoren“ und Wiederaufbereitungstechnologie zusätzlich befeuert. Plutonium war nicht nur gefährlicher als Uran, sondern konnte auch für Atomwaffen genutzt werden. Daher warnten AKW-Gegner:innen davor, dass das Plutonium für militärische oder terroristische Zwecke missbraucht werden oder es Anschläge auf Atomanlagen geben könnte. Zudem seien weitgehende Einschränkungen der Bürger- und Freiheitsrechte notwendig, um diese Gefahren abzuwehren. Die Umweltbewegung entwickelte daher alternative Modelle von demokratischer Partizipation. Ein spielerischer Ausdruck davon war, dass sich manche Atomkraftgegner:innen in eigenen „Staaten“ organisierten wie beispielsweise in der „Republik Freies Wendland“ auf dem besetzten Baugelände in Gorleben. Die Demokratievorstellungen der Umweltbewegung, die auf dem Prinzip der „Betroffenheit“ basierten, liefen dem klassischen Politikverständnis Helmut Schmidts fundamental zuwider: außerparlamentarisch statt institutionell, basisdemokratisch statt parlamentarisch-repräsentativ, mittels zivilem Ungehorsam statt konsensorientiert und – zumindest in Schmidts Wahrnehmung – emotional statt rational. Mit dem alternativen Kleidungs-, Frisur-, Sprach- und Verhaltensstil der von Schmidt so bezeichneten „Umweltidioten“ und „Schnittlauchrancher“ konnte er erst recht nicht viel anfangen. Andersherum definierten sich große Teile der Umweltbewegung und der GRÜNEN gerade durch ihre Abgrenzung von der Person Schmidts und seiner Politik. Daniel Cohn-Bendit bezeichnete die GRÜNEN einmal als „Helmut Schmidts Kinder“. Richtig ist dies insofern, als die Entstehung der GRÜNEN nicht ohne das Mobilisierungspotenzial zu erklären ist, das in der Enttäuschung über die Atompolitik der von Schmidt geführten Bundesregierung lag. Darunter litt auch die SPD. Viele umweltsensible Mitglieder verließen die Partei und engagierten sich in der Umweltbewegung. Um Erhard Eppler entstand zudem eine innerparteiliche Opposition, die insbesondere die Parteitage 1977, 1979 und 1982 nutzte, um Schmidt vor sich herzutreiben. Konkret ging es darum, welche Fortschritte beim Entsorgungskonzept notwendig seien, um neue Atomkraftwerke genehmigen und bauen zu dürfen. Mit möglichst strengen Entsorgungskriterien wollte die innerparteiliche Opposition ein Moratorium beim Kraftwerksbau oder sogar ein Ende der Atomkraft erreichen. Dass Schmidt mehrfach erklärte, sich nicht an solche Beschlüsse gebunden zu fühlen, verschärfte die Fronten zusätzlich – in der SPD kursierte das geflügelte Wort: „Mit Helmut Schmidt und Erhard Eppler für und gegen Kernenergie“. Der Druck kam vor allem von der Basis, den Bezirks- und Landesverbänden sowie von den Jusos. Er war so groß, dass es nach dem Ende der sozial-liberalen Koalition 1982 binnen weniger Jahre zu einer weitgehenden Revision des Atomkurses kam, den Schmidt der SPD aufgezwungen hatte. An ihrem vorläufigen Ende stand der 1986, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, gefällte Parteitagsbeschluss, binnen zehn Jahren aus der Atomkraft aussteigen zu wollen. Schmidts persönliche Haltung zur Atomkraft Für die Bewertung von Schmidts Rolle in der Atompolitik ist wichtig, seine genauen Motive im Blick zu behalten. Noch heute gilt Schmidt vielfach als kompromissloser Verfechter der Atomkraft. Es ist richtig, dass er die Gefahren der Atomenergie dem Szenario drohender Energieknappheiten unterordnete. Diese Position ergab sich jedoch nicht aus einer kritiklos-affirmativen Haltung zur Atomkraft, sondern aus einer in seinen Augen rationalen Risikoabwägung. „[K]ein Mensch“, so Schmidt in einem Interview mit dem WDR-Mittagsmagazin am 6. Oktober 1979, „der seinen Verstand beisammen hat, kann mit breiten Armen auf die nukleare Energie zugehen […]. Worauf es ankommt, ist, dass man nichts verschuldet, […] dass man nicht später in schlimme Energieknappheiten kommt […].“ Schmidt leugnete die Notwendigkeit des Umweltschutzes nicht, ordnete ihn aber klar den Zielen des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigungssicherheit unter. In einer Rede auf dem Landesparteitag der NRW-SPD am 2. Februar 1980 machte er deutlich, dass erst recht in Zeiten ökonomischer Krisen gelte, „dass der Umweltschutz todernst genommen werden muss, aber er ist nicht das oberste Gesetz unseres Lebens. […] Das spüren die Arbeitnehmer viel mehr, als manche Intellektuelle das spüren.“ Schmidts Haltung ist daher nicht gleichzusetzen mit der stürmischen Atomeuphorie der 1950er- und 1960er-Jahre, die gerade unter Sozialdemokrat:innen weit verbreitet war. Der Behauptung des Godesberger Programms von 1959, dass das „atomare Zeitalter […] Wohlstand für alle“ und ein Leben „jenseits von Not und Furcht“ garantiere, hat sich Schmidt in dieser Eindeutigkeit nicht angeschlossen. Er hielt die Kernenergie für ein alternativloses Mittel zum Zweck, um den bestehenden Wohlstand zu sichern. Alternativen Energieträgern traute er nicht zu, das Erdöl so schnell zu ersetzen, wie es die Kernenergie vermeintlich konnte. Dass Schmidt dies als wichtiger erachtete als das steigende Umweltbewusstsein, brachte ihn jedoch in einen Gegensatz zu immer größeren Teilen der Gesellschaft und machte ihn zur Zielscheibe der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung. Felix Lieb
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