EINE PFLANZ- UND PFLEGESTÄTTE DEUTSCHEN GEISTES? Das Festspielhaus Hellerau im Nationalsozialismus als Kulturort und Polizeischule Robert Badura
Sandstein Verlag EINE PFLANZ - UND PFLEGESTÄTTE DEUTSCHEN GEISTES? Das Festspielhaus Hellerau im Nationalsozialismus als Kulturort und Polizeischule Robert Badura
INHALT I EINLEITUNG 9 II NEUBEGINN UND NEUE NUTZUNGEN AUF DEM GELÄNDE DER BILDUNGSANSTALT HELLERAU 17 III DIE GARTENSTADT UND DAS FESTSPIELHAUS IM NATIONALSOZIALISMUS 27 IV POLIZEI IN HELLERAU – STRUKTUREN UND ZUSTÄNDIGKEITEN IM POLYKRATISCHEN NS-STAAT 53 V PERSPEKTIVEN: KRIEGSENDE 1945 BIS 1992 – DIE WESTGRUPPE DER SOWJETISCHEN STREITKRÄFTE 127 VI ANSTELLE EINES FAZITS 135 ANHANG 140
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II NEUBEGINN UND NEUE NUTZUNGEN AUF DEM GELÄNDE DER BILDUNGSANSTALT HELLERAU ZEIT DER EXPERIMENTE UND FINANZIELLE UNSICHERHEIT DER BILDUNGSANSTALT 19 DIE STAATSOPER ZU GAST IM FESTSPIELHAUS 25
19 29 Zu Dalcrozes Engagement in Hellerau und darüber hinaus vgl. Tervooren (2002). Dennoch gedieh eine vielfältige Szene von Kunst- und Kulturschaffenden sowie Reformpädagogen, die dem Areal um das Festspielhaus nach einer Zeit des teilweisen Leerstandes ab 1919 neues Leben gaben. 30 Vgl. Sarfert (1992), S. 62f.; Tervooren (2002), S. 208–229; siehe auch den Nachruf mit beiliegendem Werbeprospekt anlässlich des Todes von Christine Baer-Frisell 1932, StA Dresden 9.1.36/8, Bl. 123 f.; Fleischle-Braun (2020). ZEIT DER EXPERIMENTE UND FINANZIELLE UNSICHERHEIT DER BILDUNGSANSTALT Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stand die Bildungsanstalt Hellerau auf finanziell unsicherer Basis und musste sich verschiedenen Angeboten öffnen, um über die Runden zu kommen. Die scheinbar neuen kulturpolitischen Ambitionen des Ortes ab 1933 konnten sich einer beträchtlichen Zustimmung und deutlicher Kontinuitäten aus der Vorkriegszeit versichern, für die die Ausbildung einer ortsspezifischen Geltung und eines entsprechenden Habitus die Grundlage bildete. Das Rhythmikprojekt der Bildungsanstalt von Émile Jaques-Dalcroze war durch dessen neue Engagements in Genf zunächst gescheitert – bereits 1915 wandte dieser sich anderen Projekten zu.29 Neben der Vermietung an verschiedene Bildungseinrichtungen und Gewerbe, nahm auch die Bereitstellung von Wohnraum eine stetig wachsende Bedeutung ein. Während einige der reformpädagogischen Versuche nach kurzer Zeit bereits wieder eingestellt wurden, war anderen, etwa der »Versuchsschule Hellerau«, eine längere Existenz beschieden. Die Konzepte der Schulversuche waren dabei höchst unterschiedlich und nur von bedingt vergleichbarer Qualität: die Finanzierung erfolgte überwiegend, wie auch bereits bei der Dalcrozeschen Bildungsanstalt, durch die Beiträge der Zöglinge. Zusammen mit ihren einstigen MitschülerInnen Ernst Ferand-Freund und Valeria Kratina leitete Christine Baer-Frisell die »Neue Schule für Rhythmik, Musik und Körperbildung«, die in Hellerau bis 1925 bestand, ehe sie nach Laxenburg bei Wien umzog. Dort behielt sie den Verweis auf den renommierten Herkunftsort zumindest noch im Namen. In der Vermittlung rhythmischer Körperbildung orientierte sich die Schule stark an den Methoden von Dalcroze; dessen SchülerInnen Ferand-Freund und Kratina versuchten seine Methoden weiterzuentwickeln und hatten sich auch bei Rudolf von Laban und Mary Wigman fortgebildet.30 Mit der von Carl Theil gegründeten »Neuen Schule Hellerau«, die von 1919 bis 1925 bestand, oder der antiautoritär unterrichtenden International School von Alexander Sutherland Neill und der Versuchsschule Hellerau gab es Kooperationen. Der Förderung der Verbindung von Körper und Geist wurde bei allen reformpädagogischen Konzepten große Wichtigkeit beigemessen, Bewegung und gymnastische Bildung sollten in ganzheitlichem Verständnis die natürlichen Voraussetzungen geistiger Entfaltung begünstigen. Von den pädagogischen Institutionen am Platz hatten das Töchterheim der Mathilde-Zimmer-Stiftung sowie die zeitweise auf dem Gelände der Bildungsanstalt befindliche Dora-Menzler-Schule am längsten Bestand und Einfluss auf das kulturelle Leben der Gartenstadt. Nach dem Umzug aus Leipzig 1931 führte die Schule bis 1952 den Lehrbetrieb in Hellerau fort, zunächst in den Räumen der Bildungsanstalt GmbH, ab 1935 am Tännichtweg. Obwohl Menzler als sogenannter Halbjüdin die Leitung ihrer Schule ab 1933 untersagt war, konnte sie mit Hilfe ihrer Schülerin Hildegard Marsmann den Betrieb fortführen, wenngleich sie nur noch eine Nebenrolle bei der Ausbildung spielte. Das Konzept von Tanz, Bewegung und Gymnastik als Ausdrucksmittel des Körpers und dessen Vermittlung ging dann später auch konform mit dem Körper- und Frauenbild des Nationalsozialismus (Abb. 1, 2). Andere, teils erzieherische Schwerpunkte, hatte auch die Handwerkergemeinde unter der Leitung von Heinrich Tessenow. Im Verständnis Tessenows ging die idealisierte kleinstädtische Lebensweise mit der handwerklichen Produktion für einen lokalen Markt einher. Das handwerkliche Lernen am Werkstück und die Fertigung kleiner Serien nahmen einen zentralen Platz bei der Produktion von Kunsthandwerk und Gebrauchsgegenständen ein – im Gegensatz etwa zu Karl Schmidt und der industriellen Herstellung seiner Deutschen Werkstätten. Eine Ständegesellschaft en miniature, mit dem Handwerkermeister an der Spitze seiner Gesellenschar, wurde fast mythisch verklärt und zelebriert. Zum Ausbildungsbetrieb gesellten sich recht schnell die vielfältigsten Kunstgewerbe; neben einer Tischlerei, die als einzige das Ende der Handwerkergemeinde überdauern sollte, Buchdruckerei und Verlag von Jakob Hegner, Silber-
20 Abb. 2: Ausschnitt aus einem Porträtfoto von Christine Baer- Frisell, aus ihrem Nachruf, 1932, Stadtarchiv Dresden. Abb. 1: Ausschnitt aus dem Programmheft für die Sommerkurse der Dora Menzler-Schule, 1932, Stadtarchiv Dresden.
21 31 Seiner Meinung nach »beginnt uns eine zweite Periode völkischen Arbeitens, und erst nachdem wir uns da hineingelebt haben werden, kann uns das immer wieder ersehnte dritte oder künstlerische Zeitalter kommen; [...] ein solches Zeitalter gibt es nicht, ohne daß wir [...] nicht nur stark kindlich, sondern auch stark männlich waren«, Tessenow (1928), S. 4; vgl. auch Sarfert (1992), S.127f.; siehe auch: Tessenow (1929), S. 251 f. 32 Vgl. Beyerle/Neˇmecˇková (2018). 33 Vgl. Ulbricht (2019), S.119–122; ferner Nitschke (2009), S.102–110. In Workshops sollte einerseits praktisches und organisatorisches Wissen über handwerkliche und landwirtschaftliche Themen vermittelt werden, andererseits gab es kulturtheoretische Lehreinheiten mit Inhalten aus der Sprachwissenschaft, Volkskunde und Brauchtumsforschung. 34 Zur Zielgruppe zählten neben jungen Landwirten auch landwirtschaftliche Vereine und Körperschaften wie die Sächsische Landwirtschaftskammer sowie Volkshochschulen. Die völkische Bewegung stützte sich inhaltlich auch auf eine »christlich nationale Grundlage«, vgl. Deutsche Bauernhochschule, Nr. 3 (1921), S. 31. Die Gruppe der Beiträger bezog weite Teile des Bildungsbürgertums mit ein, vgl. den Aufsatz von Houston Stewart Chamberlain »Die Natur als Lehrmeister«, Chamberlain (1926). 35 Vgl. Ciupke (2007); siehe auch Tanzmann I. (1923). Noch 1944 berief sich der Landdienst des Reichslandbundes im Gau Sachsen auf Bruno Tanzmann als Gründungsfigur der Artamanen, vgl. BArch R 8034III/458, Bl. 131. 36 Vgl. Sarfert (1992), S.93f.; Hüneke (1997). 37 Vgl. StA Dresden 9.1.36/8, Bl.197 und StA Dresden 9.1.36/6, Bl. 89–90 sowie auch für die folgenden Zitate StA Dresden 9.1.36/5 Bl. 96–99. und Goldschmiedehandwerk, Töpferei, Typographie. Diese fungierten jedoch rechtlich eigenständig. Auch hier bildete ein lebensreformerisches, modernekritisches Erneuerungsverständnis die ideelle und theoretische Grundlage. Die handwerkliche Produktion sollte, so Tessenow, als breites und starkes Fundament die Grundlage bzw. Voraussetzung jeder künstlerischen Produktion sein.31 Zwar hatten Frauen in diesem Denken keinen Platz; dass diese jedoch durchaus zu handwerklichen Spitzenleistungen und modernsten Design-Entwürfen fähig waren, zeigen ihre vielfachen Engagements für die Deutschen Werkstätten und den Deutschen Werkbund.32 Allerdings brach die Gemeinschaft in dem Moment recht rasch auseinander, als Heinrich Tessenow 1926 ein Karrieresprungbrett zu nutzen wusste und einen Ruf an die Technische Hochschule nach Berlin erhielt. Die Handwerkergemeinde verlor damit ihren einflussreichsten Unterstützer. Eng verbunden mit der völkischen Bodenreform war die auch in Hellerau aktive Bauernhochschulbewegung: Ein kurzes Intermezzo auf dem Areal der Bildungsanstalt war das Wirken der Familie von Bruno Tanzmann und seiner Frau Ilse, die dort unter anderem Reformkleidung herstellte. Im Jahr 1921 wurde nicht nur der Erste germanische Bauernhochschultag in den Räumen des Festspielhauses abgehalten, welche die Bildungsanstalt zur Verfügung stellte. In die Zeit der Weimarer Republik datierte auch die Gründung der Bauernhochschulbewegung mitsamt der von Bruno Tanzmann herausgegebenen Zeitschrift »Die Bauernhochschule«. Während dieses völkischen Kongresses versammelten sich 1921 bedeutende Vertreter der Szene in der Gartenstadt.33 Den Kontext der Veranstaltungen bildete die Idee einer landwirtschaftlichen Kolonisation und Siedlung als Gegenstück zum modernen Individualismus bzw. der Verbreitung bäuerlicher Kulturtechnik und Lebensweise, in deren Einfachheit und Bodenständigkeit eine Alternative zum Leben in der Stadt gesehen wurde. Einer paternalistischen und ständischen Auffassung nach sollten Männer und Frauen nach ihren Möglichkeiten und Begabungen in der Gemeinschaft leben, wobei die Auswahl der Ehepartner nach Gesichtspunkten der Erbgesundheit zu erfolgen hatte, ähnlich wie bei der Konzeption des Artamanenbundes. Die Familien sollten in Subsistenzwirtschaft und allenfalls für den Nahbereich produzieren und die leerstehenden und brachliegenden Hinterlassenschaften der Stadtflucht wieder mit neuem Leben und Bewusstsein für die germanische ›Rasse‹ füllen. Tanzmann erreichte mit seiner Bauernhochschule eine große Resonanz und in den 1920er Jahre sollten weitere Workshops stattfinden.34 Tanzmann war auch verlegerisch sehr umtriebig, erwähnt seien hier die Herausgeberschaft von Periodika, sein Hakenkreuzverlag und die »Weltwacht der Deutschen«.35 Allen Bildungsangeboten gemein war die Tatsache, dass sie in beständiger finanzieller Prekarität wirtschaften und unterrichten mussten, mehr oder weniger gut durch die Beiträge der Schülerinnen und Schüler ausgestattet, teilweise auch durch Spenden, ehrenamtliches Engagement und private Vermögen gestützt. Unter diesen Bedingungen litt auch das Engagement Alois Schardts, der 1923 nach Hellerau kam, um die Bildungsanstalt zusammen mit Harald Dohrn zu leiten. Mit seiner Frau Mary Dietrich organisierte und führte er Sommerkurse für die körperlich-geistige Weiterbildung Erwachsener sowie einen praxisorientierten Unterricht mit einem Schwerpunkt auf Kunst- und Körperbildung für Kinder durch. Zudem richtete er eine vielbeachtete Galerie zeitgenössischer Kunst ein, die auch Dresdner Kunstschaffende zeigte, ehe finanzielle Umstände auch dieses Engagement beendeten.36 Die Geschäftspolitik der Bildungsanstalt lag durchaus nicht immer im Interesse der Gartenstadt-Gesellschaft Hellerau, die zu ihren Gesellschafterinnen gehörte. Die Bildungsanstalt, welcher ein kulturelles Gewissen nach Ansicht der Zeitzeugen gewissermaßen eingeschrieben schien, hatte nicht erst 1937 mit der Idee, das Festspielhaus an das Innenministerium zu verkaufen, diesen Pfad der ausschließlich kulturellen Nutzung des Areals verlassen. Ein besonders hervorstechendes Beispiel hierfür sind die Planungen aus dem Jahr 1928, in Hellerau eine Glühlampenfabrikation anzusiedeln. Diese wurde als große und lang ersehnte Chance wahrgenommen, um der Anstalt finanziell endlich auf die Beine zu helfen, da sich sonst wenige Alternativen boten und die Geschäftsführung bereits zahlreiche gescheiterte Versuche unternommen hatte, das Gelände zu verwerten. Hierzu gehörte etwa auch, dass die Pensionshäuser seit dem Konkurs und anschließendem Zwangsvergleich 1915 als Wohnungen vermietet wurden.37
22 38 Diese Erwähnung lässt einen Hinweis darauf zu, dass es sich bei der angesprochenen Technik entweder um eine Leuchtstoff- oder Gasentladungslampe handeln musste, möglicherweise in Kombination mit einem Verfahren zur Vervielfältigung von Filmen. Die Bildungsanstalt hätte unter Einbringung ihrer Immobilien mit der »N.G.G.« eine neue Gesellschaft gebildet – ein hoher Preis für einen fragwürdigen wirtschaftlichen Erfolg. 39 Da das Unternehmen weder in der Überlieferung der Bildungsanstalt auftaucht noch in den Beständen der sächsischen Amtsgerichte, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine den zeitlichen Umständen entsprechende Risikoinvestition mit geringen Reserven handelte bzw. die Unternehmung nicht lange genug bestand, um erfolgreich zu sein. 40 Vgl. StA Dresden 9.1.36/6, Bl. 89–90. Zur Glühlampenfabrikation hieß es in einer Denkschrift der Bildungsanstalt vom März 1928: »Die Besitzer der Bildungsanstalt haben zu diesem Zwecke verschiedene Möglichkeiten ins Auge gefasst und sind schließlich auf Grund der Erfahrungen, die sie gemacht haben, von dem Gedanken abgekommen, die Bildungsanstalt Hellerau weiterhin erzieherischen oder künstlerischen Zwecken dienstbar zu machen, vielmehr wollen sie die wertvollen Baulichkeiten nunmehr industriell verwerten, wobei von der besonderen Art des Gebäudes auszugehen war. Ein glücklicher Zufall hat es gefügt, dass die Bildungsanstalt Hellerau in der ›Neue Glühlampenfabrik m.b.H.[‹] in Dresden ein Unternehmen gefunden hat, dessen Absichten auf Errichtung einer grossen Glühlampenfabrik in Verbindung mit einem Filmaufnahmeatelier mit Glühlampenbetrieb in denkbar glücklichster Weise entgegenkommt.« Dass der Verfasser des Schreibens gleich zu Beginn von einem Kurswechsel der Leitung der Bildungsanstalt spricht, legt nahe, dass bereits erste, wenn auch vielleicht unverbindliche, Gespräche stattgefunden hatten, in welchen es auch um Interna der Bildungsanstalt ging. Andernfalls würde das bedeuten, dass deren Leitung den Kurswechsel weg von der Betätigung auf kulturellem Feld hin zu einem Engagement im produzierenden Gewerbe bereits mehr oder weniger öffentlich kommuniziert haben musste. In beiden Fällen verdeutlicht dies jedoch die schwierigen finanziellen Verhältnisse der Bildungsanstalt kurz nach dem Ersten Weltkrieg. In Bezug auf die Glühlampenfabrikation warb die »N. G. G.« damit, in Lizenz für die Berliner Firma Osram Lampen zu produzieren, in Stückzahlen von bis zu 15 000 pro Jahr, und so den Bereich der Filmherstellung revolutionieren zu wollen. Zum Einsatz kommen sollte neueste Technik bei der Herstellung einer sogenanntenEinkristallstarklichtlampe bzw. Einkristallstablampe, als Alternative zu herkömmlichen und leistungsschwächeren Quecksilberlampen.38 Geworben wurde mit prominenter Unterstützung durch niemand geringeren als Karl Freund, einen der einflussreichsten Kameramänner des Deutschen Films der Zwischenkriegszeit, dessen Empfehlung vor dem Hintergrund seiner beruflichen Erfahrungen aus den USA die Auswahl Helleraus zu verdanken gewesen sei. Möglicherweise war er ebenfalls rechtlich in die »N.G.G.« involviert. Die damit zusammenhängende Filmherstellung mit Filmatelier, Kostümherstellung usw. sollte, so bewarb es der Autor des Schreibens, sich in einer gesteigerten Bautätigkeit, und damit in einer Bedeutungsvermehrung für die Gartenstadt niederschlagen. Das Unternehmen warb zwar damit, einen Beitrag nicht nur für die Etablierung des Wirtschaftsstandortes Hellerau leisten zu wollen. Fern vom Markt, ohne ausreichende Liquidität und mit einem Projektpartner versehen, der auf einem Gebiet wie der Film-, chemischen und Glasindustrie keinerlei Kompetenz vorweisen konnte, musste das Ansinnen des Unternehmens aber eine fixe Idee bleiben.39 Es ist fraglich, ob alle Gesellschafter den Kurswechsel der Anstaltsleitung mittrugen. Klar ist: die baulichen Investitionen in dem für eine industrielle Produktion völlig ungeeigneten Gebäude hätten das mit 80 000 RM viel zu knappe Budget der fusionierten Gesellschaft bei weitem überschritten. Die Eingriffe in das Gebäude und die örtlichen Strukturen wären ähnlich gravierend gewesen wie später für die Einrichtung einer Polizeischule. Knapp zehn Jahre später schien jenes Kapitel jedoch bereits vergessen. Die Bildungsanstalt musste, um ihre Verluste gering zu halten, von Experimenten Abstand nehmen und sich dauerhafteren Beteiligungen zuwenden: Das Festspielhaus sollte 1928 an die Sächsische Landeswohlfahrtsstiftung bzw. das Sächsische Ministerium für Arbeit und Wohlfahrt verpachtet werden.40 Die Wohlfahrtsschule wurde am 10. April 1929 in Hellerau als Frauen-Fortbildungsanstalt in der Trägerschaft des sächsischen Wohlfahrtsministeriums eröffnet. Als Ergänzung zu den bestehenden Schulen in Dresden und Leipzig konnte diese unter der Leitung von Else Ulich-Beil, die Lotte Schurig nachfolgte, in den Räumen der Bildungsanstalt eröffnet werden, der eine Vermietung von Räumen nicht ungelegen kam. Die Einrichtung der Hellerauer Schule entstammte dem Anliegen des Wohlfahrtsministeriums, die Ausbildung geschulten Personals für die Wohlfahrtspflege weiter zu professionalisieren. Das Konzept verstand sich als ein zuallererst praktisches, in welchem junge Frauen ihre theoretischen Kenntnisse in zweijährigen Ausbildungsgängen und Fortbildungskursen vertiefen konnten. Mit Ulich-Beil, die in der Tradition der Frauen(bildungs)vereine stand und sich auch als Landtags-
23 41 Vgl. Dresdner Neueste Nachrichten, 12.4.1929, S. 4 sowie auch Dresdner Anzeiger, 11.4.1929, S. 3; neben dem Ausbildungsbetrieb war die Schule auch Tagungsort, vgl. Sächsischer Gemeindebund (1930). 42 Vgl. auch Sächsisches Arbeits- und Wohlfahrtsministerium (1929), S. 250–258; sowie StA Dresden 8.13/145/01, Schreiben der Landeswohlfahrtsstiftung vom 29. 9. 1934. 43 Vgl. etwa SächsStA 10736/19025, Bl.178a sowie 10736/19026, Bl. 310 –326, 342. 44 Vgl. dazu auch Biener (2017). 45 Stölten (1937), S. 9. 46 Vgl. ebd., S. 8. 47 Vgl. ebd., S.10 –24, 114–122. Das betraf auch die Verbindungen zu den Dresdner Kunstsammlungen und zu einem der Stadt attestierten Kunstsinn. 48 Vgl. StA Dresden 9.1.36/6, Bl. 89–90. abgeordnete für die Stärkung der Rolle von Frauen verdient gemacht hatte, schien die Leitung fast ideal besetzt. Wenngleich der Ort aus praktischen Erwägungen und finanziellen Gründen gewählt wurde, rekurrierte man gleichwohl auf die Topoi Kunst und Natur, die schon so oft einen Anknüpfungspunkt für Hellerau dargestellt hatten.41 Bedingt durch die Trägerschaft des Wohlfahrtsschulverbandes durch das Arbeits- und Wohlfahrtsministeriums sowie die Bezirksverbände der Amtshauptmannschaften hatte die Schule die mit Abstand besten Voraussetzungen für eine dauerhafte Präsenz in Hellerau, da ihre Finanzierung damit gesichert war – im Gegensatz zu all den nahezu ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen finanzierten Schulen. Auch die steigenden quantitativen und qualitativen Anforderungen an die Wohlfahrtspflege hätten eine Verstetigung begünstigt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten und deren erziehungspolitische Abkehr von einer emanzipierten, von liberalem Geist getragenen Frauenbildung überlebte die Einrichtung indes nicht und wurde nach nur vier Jahren 1933 geschlossen; die Räume wurden fortan an die Menzler-Marsmann-Schule vermietet.42 Die Schließung der Wohlfahrtsschule, als einer eher dem linksliberalen Spektrum zuzurechnenden Institution, schien nicht nur zwingend in Bezug auf die ideologisch motivierte Einstellung von mit dem Nationalsozialismus konkurrierenden Institutionen, sondern auch wegen zahlreicher Vorbehalte aus der örtlichen Bevölkerung, die das Institut als zum Geist der Gartenstadt unpassend wahrnahm. Die Leiterin der Wohlfahrtsschule Else Ulich-Beil, unter anderem Vorsitzende des dem Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF) nachfolgenden Staatsbürgerinnen-Verbandes, steht dabei exemplarisch nicht nur für die Gruppe derjenigen, denen mit dem Vorwurf der Opposition zum NS-Staat die Möglichkeiten der Berufsausübung verwehrt wurden. Durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und seine oft großzügige Auslegung wurden insbesondere Frauen aus dem Erwerbsleben gedrängt, um die freiwerdenden Stellen an männliche Kandidaten zu vergeben. Häufig ging damit aber auch ein Verlust von Pensionsansprüchen einher. Für Ulich-Beil sollte sich in dieser Frage ihre DDP-Mitgliedschaft zusätzlich negativ auswirken, was eine längere Auseinandersetzung um eine mögliche Pension sowie ein Berufsverbot nach sich zog.43 Durch den Verkauf des bislang verpachteten großen Pensionshauses von Carl Sattler an die Mathilde-Zimmer-Stiftungen versuchte die Bildungsanstalt, ihre Schulden teilweise zu tilgen. Das Töchterheim im sogenannten Rietschel-Schillinghaus bestand von 1925 bis zur Requirierung durch das Polizeiausbildungsbataillon 1942. Als christliches Mädchenpensionat und Heimerziehungsanstalt war es der Ausbildung einer künftigen Generation fürsorglicher Frauen und Mütter verpflichtet und bildete eine Möglichkeit für christlich-konfessionelle, ledige Frauen, sich weiterzuqualifizieren.44 Im Schatten eines bürgerlich-religiösen und traditionell-fürsorglichen Frauenbildes konnte die Institution auch nach 1933 ungestört in Hellerau fortbestehen. Heimfrauenschulen sollten eine »familienähnliche warmherzig-fröhliche und geschlossene Erziehung der Gemeinschaft mit der sorgfältigen Ausbildung der Schule verbinden und so die Möglichkeit einer wirklichen Lebensschulung bieten«.45 Die Stiftung sah sich im Jahr 1937 durchaus als Vorreiterin bei der Erziehung junger Frauen zu Gattinnen, Müttern und Pflegerinnen nach den Maßstäben der sogenannten Volksgemeinschaft: »In einer immer wieder Erstaunen weckenden Weise ist die Arbeit der Stiftung Wegbereiter geworden für die neuen Wege der Frauenbildung, die der Nationalsozialismus aus seinem organischen Verstehen von der Tat und Aufgabe der deutschen Frau heute geht«.46 Die Vorbereitung auf die Mehrfachbelastung der Frau w urde jedoch nicht als Makel, sondern als Chance wahrgenommen, der man mit einem Fokus auf das Praktische und Familiäre begegnen wollte (Abb. 3). Großen Wert legte man in Hellerau auf die gymnastische Ausbildung der jungen Frauen und betonte diesen Aspekt auch im Schulführer, wobei die Heimfrauenschule gerne auf die bewegungspädagogischen Traditionen des Ortes verwies.47 Eine größere Chance für die Anstalt und das Festspielhaus hätte im Jahr 1924 in dem Ansinnen des Volksbildungsministeriums bestanden, das Gelände für die Ansiedelung der Landesschule zu kaufen. Diese zerschlug sich jedoch aufgrund von Verzögerungen staatlicherseits und der zunehmenden Favorisierung eines Neubaus, wenngleich die Bildungsanstalt in Erwartung eines Verkaufs den bisherigen Pächtern bereits gekündigt hatte und sich die finanziellen Schwierigkeiten dadurch noch verschärften.48
AUSBILDUNGSABTEILUNGEN DER ORDNUNGSPOLIZEI AB 1939 91 Polizeischulen 91 Weltanschauliche Schulung, Zugführerausbildung und Taktik 91 Exkurs: Die Bedeutung der Körperschulung 94 DIE POLIZEISCHULE HELLERAU ALS POLIZEIAUSBILDUNGSBATAILLON, -LEHRBATAILLON UND -WAFFENSCHULE 96 Ausbildungsmodalitäten 96 Aspekte des Ausbildungsalltags 102 HELLERAU UND DIE AUSBILDUNG VON POLIZEIKRÄFTEN AUS DEM AUSLAND 103 DIE POLIZEISCHULE HELLERAU UND IHRE VERBINDUNGEN IN DAS BESETZTE EUROPA 104 Einsatz in Polen und in der Sowjetunion 104 Einsatz in Nord- und Westeuropa 111 Der Polizeistandort Hellerau als Profiteur des Rückzugs 113 Die deutsche Ordnungspolizei und der Südosten Europas 114 Einsatz in Italien 116 Der Krieg auf deutschem Boden 118 Die Polizeiwaffenschule zwischen Abwehrkampf und Kriegsende 121 Aspekte der Auseinandersetzung mit den Tätern ab 1945 122
55 145 Vgl. Siggemann (1980); Deppisch (2017), S. 100 f. 146 Vgl. Deppisch (2017) S.123–137. In dieser Zeit hielten auch bereits entsprechende Feindbildkonzeptionen Einzug in die theoretische Ausbildung, etwa bezogen auf sog. ›Zigeuner‹ oder Kommunisten. In den Polizeiapparaten hatte es im Vorfeld der Machtergreifung bereits breite Zustimmung zur nationalsozialistischen Agenda gegeben, vgl. ebd., S. 65–73. Zum Luftschutz als Teil der ORPO-Aufgaben vgl. Befehlsblatt d. ChefOP. 1944, Nr. 25, S. 217. 147 Daneben bestanden verschiedene Möglichkeiten mehrmonatiger bis mehrjähriger Aufbaukurse zur Sicherung des Führungskräftenachwuchses. Eine der dafür vorgesehenen Lehranstalten befand sich in Potsdam-Eiche, wohin auch Einheiten aus anderen Deutschen Ländern zur Weiterqualifizierung abgeordnet werden konnten, vgl. Deppisch (2017), S.101–117 sowie auch Lambrecht (2010), S. 41–48. 148 Als Polizeifürsorgerinnen oder Polizeiassistentinnen waren auch Frauen bereits ab der Wende zum 20. Jahrhundert im Polizeidienst tätig und führten im Rahmen von Konzepten der Mütterlichkeit und Schwesternschaft Wohlfahrtsdienste aus. Nach einer Professionalisierungsphase in den 20er Jahren wurde ihre Funktion im Nationalsozialismus im Rahmen der Präventionsarbeit stark ideologisiert, vgl. Blum (2012), S. 40–68. POLIZEI VOR 1933 Für die Einordnungen der Entwicklung auf dem Festspielhausgelände soll zunächst ein Blick auf die Entstehung des Polizeiapparates vor 1933 und seine Modifikation unter nationalsozialistischen Vorzeichen geworfen werden. Viele Institutionen, die im NS-Staat eine Aufwertung erlebten, hatten ihre Vorläufer bereits vor 1933. Neben wenigen Brüchen bestanden Kontinuitäten nicht nur in thematischer und symbolischer sondern vor allem in personeller Hinsicht, wie sich noch zeigen wird. In der Expansionsphase war das Umfeld von Heinrich Himmler, dem ›Chef der Deutschen Polizei und Reichsführer SS‹, auf der Suche nach immer mehr Personal und immer größeren Platzkapazitäten – dies bildete den Hintergrund für die Festlegung auf Hellerau und das Festspielhaus als Standort für die Polizeiausbildung. Im Kaiserreich und in den deutsche Staaten war eine einheitliche Polizeiausbildung nicht vorhanden; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen einzelne Staaten und Kommunen diese zu institutionalisieren, weiter zu entwickeln und zu militarisieren, allen voran Preußen.145 Die unübersichtlichen gesellschaftlichen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg schlugen sich auch im oft improvisatorischen Charakter der Polizeiarbeit nieder, was eine Professionalisierung notwendig machte. Kriegsbeteiligung und militärische Sozialisierung eines Großteils der Polizeikräfte bedingten auch eine stark militärische Ausrichtung ihrer Tätigkeit, was etwa die Arbeit mit Planspielen und Taktik anbelangt. Erfahrungsberichte älterer Beamter spielten eine immense Rolle; dies galt auch für die Polizeiausbildung. Fortdauernde Theoriedefizite, ein Mangel an Handbuchwissen, der übertriebene Fokus auf körperliche Leistungsfähigkeit sowie Vereinheitlichungszwang führten zu einer Übertragung der Ausbildungskompetenzen auf die staatliche Ebene und so wurden zu Beginn der 1920er Jahren in allen Ländern Polizeischulen gegründet. Ein militärisch-taktischer Schwerpunkt in der Ausbildung wurde für die Angehörigen der Bereitschaftspolizeien beibehalten, um die Beamten auf den Kampf mit Aufständischen oder dem politischen Gegner vorzubereiten, unter anderem mit Plan- und Geländespielen. Die theoretische Auseinandersetzung damit intensivierte sich vor allem im Nachgang der Reichsexekutionen in Thüringen und Sachsen 1923. Probleme mit der Treue zur Republik bestanden gerade in der Anfangs- und Endzeit der demokratischen Polizei. Geschlossene Polizeiverbände gab es im Deutschen Reich erst nach 1918. Eine kurzfristig ins Leben gerufene Ordnungspolizei musste aufgrund des Drucks der Siegermächte 1920 bereits wieder aufgelöst werden. An ihre Stelle traten auf der Ebene der Länder leichter bewaffnete, geschlossene Polizeiverbände mit einer erlaubten Maximalstärke von 150 000 Mann und einem Verbot von schweren Waffen. Die Weimarer Reichsregierung versuchte immer wieder, die Vorgaben zu umgehen und auf eigene Art zu interpretieren, um die gewünschten Personalstärken zu erzielen. Dabei befand sie sich in dem Zwiespalt, eine demokratische, republiktreue Polizei zu schaffen, wo jedoch überwiegend nationalistisch-reaktionäres Heerespersonal zur Verfügung stand. Die Existenz der Ordnungspolizei als paramilitärische Einsatztruppe hatte ihren Ursprung bereits in der Zeit der Notverordnung der Weimarer Republik.146 Die Ausbildung dauerte zwischen einem und drei Jahren; das Training an Waffen und die körperliche Ertüchtigung dominierten teilweise die Grundausbildung.147 Dies änderte sich 1933 grundlegend. In der ORPO wurden die polizeilichen Kompetenzen verschiedener Ebenen miteinander verschmolzen, einerseits die Gemeindepolizei, die Gendarmerie und die Verkehrspolizei, aber auch die bei Großlagen eingesetzten Bereitschaften der Schutzpolizei sowie Feuerschutz, Wasserschutz, Luftschutzpolizei und Technische Nothilfe. Während sich die Gemeindepolizeien unter Abspaltung von anderen Diensten, wie etwa der Baupolizei, langsam zu kommunalen Vollzugsdiensten entwickelten, die erst im Laufe der Zeit von staatlicher Seite reglementiert wurden, war mit Gendarmerie und Schutzpolizei eine Polizeieinheit in der Ordnungspolizei bestimmend, deren Aufsicht auf Länderebene lag und zuvor von den Landesherren ausgeübt wurde.148
56 149 Zu Person von Wilhelm Frick, vgl. Neliba (1992). 150 Vgl. Rossol/Ziemann (2023). Dazu kamen die beiden Gleichschaltungsgesetze, das Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 31. März 1933 sowie das Zweite Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 7. April 1933, welches die Reichstagswahlergebnisse auf die Länderparlamente übertrug – ohne Berücksichtigung der KPD – und die Möglichkeit bot, die Länderverfassungen zu umgehen, vgl. BArch R 43-II/1309. 151 Vgl. Nr. 159 Neugliederung des Thüringer Polizeischulwesens (1. 4. 1930), zit. nach Münzel (2013), S. 221; dazu auch Nr. 160/161, ebd., S. 222–224; zur Machtergreifung und zum Ermächtigungsgesetz in Thüringen vgl. Nr. 157 Das »Ermächtigungsgesetz« für Thüringen (29.3.1930), zit. nach ebd., S. 217, sowie Dieckmann (1996). Die Regierung kam durch eine Koalition aus DNVP, DVP, Landbund, Mittelstandspartei und NSDAP zu Stande, vgl. Esche (2017), S. 68–78. 152 Bereits 1930 wurden ein Ermächtigungsgesetz sowie ein Berufsbeamtentumsgesetz erlassen, in welchen man die Vorlage für die Gesetze des Reiches aus dem Jahr 1933 sehen kann, vgl. Raßloff (2015); zu Sauckels späterer Karriere als Beauftragter für Zwangsarbeit vgl. Vergin (2008), S. 94–110. WILHELM FRICK ALS CHEF DER POLIZEI UND VORDENKER DES STAATSUMBAUS Der bereits erwähnte Wilhelm Frick beeinflusste mit seiner Verantwortlichkeit als Reichsinnenminister die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 maßgeblich. Als Innenminister und Reichswahlleiter oblagen ihm bei der Organisation und Durchführung der Wahlen geeignete Mittel, um KPD und Sozialdemokraten an der Wahl zu hindern. Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes vom 4. Februar gewährte ihm und Hermann Göring, die sich die Leitung des Innenressorts teilten, weitreichende Befugnisse – von der Einschränkung der Pressefreiheit und der freien Rede bis hin zur Legalisierung politischer Gewalt. Und mit der Zuständigkeit für die Polizei konnte er die Vorschriften im Sinne der NSDAP durchsetzen, unterstützt durch das Reichsjustizministerium.149 Als Reichsminister war Frick für die Korrumpierung des demokratischen Weimarer Staates ebenso verantwortlich wie für die Aufhebung des Föderalismus: Mit Hilfe von Reichskommissaren gelang es, wie bereits der Fall Preußens zeigte, die Hoheit der Länder auszuschalten und einen zentralistischen Parteienstaat zu schaffen. Der Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 lieferte einen Vorwand für den Erlass der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat (die sogenannte Reichstagsbrandverordnung), mit der die Grundrechte de facto außer Kraft gesetzt wurden. Zugleich wurde damit die für den NS-Staat kennzeichnende Praxis etabliert, per Verordnung und Erlass die Gesetzgebungskompetenzen der Verfassung zu umgehen. Frick oblag es, den Rahmen für die nationalsozialistische Staatsreform zu schaffen.150 Flankieren konnte er den Umbau des Staates auch von innen. Durch sein Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 konnten alle der NSDAP missgünstigen und störenden Personen und Organisationen aus dem Verwaltungsapparat beseitigt werden. Auf der Ebene des Reiches, der Länder bis hin zu den Kommunen mussten Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, aber auch zahlreiche Frauen ihre Positionen an die Wunschkandidaten der NSDAP-Verbände abtreten und nach und nach auf ihre Stellung, ihr Einkommen und ihre Pensionen verzichten. Wilhelm Frick hatte zuvor bereits in Thüringen Gelegenheit gehabt, Wissen und Praxiserfahrung bei der Zerstörung und Hintergehung eines Gemeinwesens zu sammeln. Für Hitlers Absichten schien er daher bestens geeignet. Das Land Thüringen war, wenn es um nationalsozialistische Machtentfaltung und die Wegbereitung des NS-Staates ging, bereits 1930 vorangegangen. Zunächst als Innenminister und Leiter des Volksbildungsressorts – auch hier in einer Schlüsselposition für die Diffusion rassistischer und diskriminierender Herrschaftsstrukturen in das Staatswesen – hatte Frick den erfolgreichen Versuch unternommen, der NSDAP in die Schaltstellen der Landesverwaltung zu verhelfen. Die Koalitionsregierung, geführt von Erwin Baum vom Thüringer Landbund und Wilhelm Frick, verfügte dabei über eine bequeme Mehrheit; modellhaft ließ sich auf der regionalen Ebene das umsetzen und antizipieren, was auch auf der Reichsebene ein paar Jahre später stattfinden sollte.151 Als Volksbildungsminister konnte Frick weitreichenden Einfluss beispielsweise auf die öffentlichen Bibliotheken und die Hochschulpolitik nehmen sowie die Lehrerschaft nach völkischen und rassistischen Kriterien austauschen. Mit der Gesetzesnovelle vom 29. März 1930 war es möglich, die Verwaltung zu reorganisieren und großzügig mit Personal aus der NSDAP zu besetzen. SITUATION IN SACHSEN UND THÜRINGEN In einem Vorgriff auf seine spätere Tätigkeit als Reichsinnenminister und oberster Dienstherr der Polizei baute Frick in seiner Thüringer Zeit die Polizeiverwaltung um, bündelte alle Kompetenzen beim Innenministerium und zog für die neue Landespolizei alle Aufgaben von der Gemeindeebene ab. Dabei gingen die Maßnahmen sogar weiter als das etwa in Sachsen nach 1933 der Fall war. Nach der Landtagswahl 1932 konnte die NSDAP als stärkste Fraktion unter Einbeziehung des Landbundes unter Fritz Sauckel als Leitendem Staatsminister das Land nach Gutdünken zu einem frühen Mustergau umgestalten, ab 1942 sollte Sauckel Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, also die europaweite Zwangsarbeit werden.152 Frick wechselte 1933 als Innenminister nach Preußen und teilte sich mit Hermann Göring die Funktion des Reichsinnenministers. Die in Thüringen etablierten Strukturen dienten sodann bei der
57 153 Vgl. Nr. 163, zit. Nach Münzel (2013), S. 225; siehe auch ebd., Nr. 170, S. 234, Nr. 174, S. 240, Nr. 178, S. 243. 154 In beiden Ländern wurden fast zeitgleich Landespolizeischulen gegründet, 1922 in Meißen, 1925 in Jena, vgl. Nr. 42 Beschluss zur Schaffung der Höheren Polizeischule Jena (19.1.1925), zit. nach ebd., S. 85; siehe auch Nr. 43–52, ebd., S. 86–95. Eine Zusammenarbeit bestand auch mit der Preußischen Polizeischule in Potsdam-Eiche (Nr. 55). Wenigstens für den Überblick zu Sachsen nützlich: Unger (2005), S. 60–81. Vgl. auch Knatz (2000). Die sächsische Polizei unterhielt mit der Landespolizeihochschule bis dahin auch Kooperationen, vgl. etwa einen Aufsatz in der regelmäßigen Kolumne des Dozenten Koch (1929), S. 97 f. 155 Dazu ferner Unger (2005), S.188–204. 156 Auch wenn Mitgliedschaften von Polizeibeamten in der NSDAP vor 1933 eher selten waren, was Unger zumindest andeutet, ebd., S. 298–309f. Misstrauen oder gar offene Ablehnung der Polizeibeamtenschaft scheinen nach dem gegenwärtigen Stand der Quellen zur Ausnahme gehört zuhaben. 157 Unter der Rechtfertigung, dass die Schutzpolizei des Landes die öffentliche Ordnung im Angesicht eines drohenden Putsches von Links allein nicht aufrechterhalten könne, wurden diese mit einer Hilfspolizei, mit eindeutiger politischer Absicht, ergänzt, u.a. aus Angehörigen von SA; damit konnte die Polizei aktiv auf die NSDAP ausgerichtet werden. 158 Vgl. Wagner (2004), S.126 –135. Vgl. auch in seinem Vorwort zur neu etablierten Zeitschrift der sächsischen Polizei: Killinger (1933), S.1: »Auch die Polizeibeamtenschaft [...] schloß sich in erfreulicher Bereitwilligkeit zur Mitarbeit dieser Einigungsbewegung an.« Die Zusammenarbeit mit der Hilfspolizei bestand oftmals auch nach deren offizieller reichsweiter Auflösung fort, vgl. Jung (2000), S. 92f. 159 Vgl. Friedrich W. (2012). Zu den durch den Versailler Vertrag erlaubten Polizeikräften steuerte Sachsen etwa 10 000 Polizisten bei. 160 Zur Abgabe der Polizei an die Wehrmacht 1935, vgl. BArch R 19/395, Bl. 68, sowie im Jahr 1938 vgl. BArch R 19/374, Bl. 6–10. Die ORPO stellte auch Personal für Arbeitserziehungslager, Birn (1986), S. 318– 322; eine »Waffenbrüderschaft mit den Wehrverbänden« wurde bereits 1933 für Sachsen propagiert und für quasinatürlich befunden: »Wir dürfen wieder soldatisch fühlen [...].«, vgl. Thierig (1933), S. 3. 161 Deppisch (2017), S. 72. Im Objektschutz wurden die Polizeitruppen etwa zur Bewachung wehrwirtschaftlicher Betriebe eingesetzt, so beispielsweise zur Sicherung rumänischer Ölfelder, wenngleich Unternehmen diese und die Verwaltung ihrer Zwangsarbeiterinnen oft in Eigenregie durchführten. Für einen Überblick galt lange Zeit als ein Standartwerk (das hier nur noch in Ausnahmefällen angeführt werden soll): Tessin (1957); Tessin (2000), S. 540 f. Zentralisierung und Gleichschaltung der Polizeibehörden der Länder (und der Auflösung der Landespolizeien) als Vorbild. 1936 gingen die Kompetenzen für den Polizeiapparat auf Heinrich Himmler über.153 Militarisierungstendenzen der Polizei bestanden ab den 1920er Jahren in zunehmendem Maße. Ein Grund dafür ist nicht nur in den stark durch den Ersten Weltkrieg gekennzeichneten Herkunftsmilieus der Polizeiangehörigen zu sehen, sondern insbesondere auch in den Märzereignissen 1921 und den Erhebungen in Sachsen und Thüringen zwischen 1921 und 1923. Diese wurden zum Anlass für eine Reichsexekution mit militärischem Gestus genommen und etablierten die Dominanz des preußischen Verständnisses von Polizeiarbeit.154 In der Ausbildung nahmen das Üben mit der Waffe und das Exerzieren den beträchtlichen Teil des Unterrichts ein, ebenso der Sport. Bei den allgemeinbildenden Fächern nutzte man oft externes Personal.155 Ab dem Ende der 1920er Jahre musste sich die Polizei in Sachsen zunehmend mit dem auf der Straße ausgetragenen Kampf zwischen rechtem und linkem politischen Spektrum auseinandersetzen. Auch in der Polizei lassen sich, ähnlich wie in Thüringen, Sympathien für die Politik der NSDAP finden, sah man doch in den politisch links stehenden Kräften einen gemeinsamen Gegner.156 Eine deutlich republikanische Gesinnung lässt sich, wenn es sie überhaupt in Ansätzen und mit regionalen Unterschieden jemals gegeben hat, ab dem Ende der 1920er Jahre in der Polizei nicht mehr finden. Die Gleichschaltung der Polizei in Sachsen 1933 verlief rasch, was für diese Institution den Begriff ›Machtübergabe‹ sicherlich rechtfertigt: Manfred von Killinger konnte das polizeiliche Gewaltmonopol schnell zentralisieren.157 Mit der Reichsexekution im März 1933 und der Kaltstellung der Regierung Schieck machte sich auch die Mehrheit der sächsischen Polizeibeamtenschaft zu Erfüllungsgehilfen der NSDAP.158 In Sachsen wurde nach dem Ersten Weltkrieg eine Hilfspolizei geschaffen, die sich 1920 zunächst als Landessicherheitspolizei und nach der zwischenzeitlichen Auflösung als Landespolizei formiert hatte. Aus drei Gruppen bestehend war sie in Leipzig, Dresden und Chemnitz stationiert und wurde auf dem Truppenübungsplatz Königsbrück, in der Nähe von Dresden, geschult. Bevor das Sächsische Innenministerium 1928 die Kontrolle über die aus dem Revier- und dem Bereitschaftsdienst verschmolzene Schutzpolizei übernahm, war für die Landespolizei die Staatspolizeiverwaltung zuständig. Während der Reichsexekution 1923 wurde die Landespolizei dem Befehl der Reichswehr unterstellt. Per Erlass des Reichsverteidigungsministers 1934 wurde die Bereitschaftspolizei zu einer Landespolizeibrigade umfunktioniert, für die dem Land ab 1935 die Zuständigkeit entzogen wurde.159 DIE ORDNUNGSPOLIZEI Im Jahr 1933 wurde auch die Militarisierung der Polizei, ihre ›Arisierung‹ und Befreiung von ›republikanischen Elementen‹ vorangetrieben. Mit der Zentralisierung der polizeilichen Dienste und auch der Polizeiausbildung der Länder ab 1935/36 musste Heinrich Himmlers neu geschaffene Ordnungspolizei zunächst einige Tausend Beamte an die Wehrmacht abgeben, die fortan den eigentlichen Kern des Heeres bildeten, was den engen Bezug zwischen Militär und Polizei im »Dritten Reich« hervorhebt.160 Vornehmlich für den militärischen Einsatz entstanden mehrere einhundert Mann starke Polizeibataillone zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung. Klassische Aufgaben des Katastrophen- und Zivilschutzes machten fortan einen immer kleineren Teil zu Gunsten der neuen Aufgaben der Ordnungspolizei aus. »So war sie etwa seit dem Überfall auf Polen dafür verantwortlich, wichtige Gebäude und Objekte, aber auch Bahnanlagen und Brücken zu bewachen, Pass- und Verkehrskontrollen durchzuführen, Razzien und Festnahmen im großen Stil vorzunehmen, besondere Personen und öffentliche Veranstaltungen zu schützen sowie Nachschubwege zu sichern«, aber auch, die Rückführung und Überwachung von Demontagen im Moment des Rückzuges zu organisieren.161 Weiterhin war die ORPO damit beauftragt, die sogenannten Volksdeutschen in die Polizei zu integrieren, um einerseits missliebige Gruppen zu verfolgen und andererseits für
58 162 Vgl. Hein (2012), S. 264–266: angestrebt war eine Verschmelzung von Polizeidiensten und SS zu einer Art ›Staatsschutzkorps‹. Vgl. auch Wilhelm (1999). Für die Ausbildung in den Lehranstalten war die zivile Tätigkeit der Anwärter eine Voraussetzung für eine spätere Profilierung und spezielle Aufgabengebiete, vgl. BArch R 19/323, Bl. 75. 163 Zit. nach Wildt (2003), S. 856. 164 Vgl. Neufeldt (1957), S. 95–101. Zur Zahl der Polizeiangehörigen vgl. auch Klemp (2011), S. 75–77. 165 Der Einsatz von Reserve- und Polizeibeamten aus dem Innendienst wurde unterstützt bzw. ermöglicht durch die Verordnung über die Einstellung von Wehrpflichtigen in die Schutzpolizei des Reiches vom 31.10.1939. Durch Personalengpässe motiviert, griff die Polizei auch auf ›Volksdeutsche‹ aus den besetzten polnischen Gebieten, vgl. Deppisch (2017), S.163–168. 166 Nochmals abgesenkt wurde es ab 3.10.1941 auf den Geburtsjahrgang 1890, vgl. BArch R 19/304, Bl.181–185. 167 Auf Formen der Altersdiskriminierung reagierte das Hauptamt ORPO mit Rundschreiben, in denen abfällige Äußerungen über älteres Personal sanktioniert wurden. Darin zum Ausdruck kommt die heterogene Zusammensetzung der Truppen, jedoch auch Defizite im sozialen Umgang und Hintergrund, vgl. R19/308, Bl.16 –17. 168 Vgl. dazu etwa Dierl (2011). Zu den Befehlshabern und dem Hauptamt: Dierl (2001). 169 Vgl. Wildt (2003) S. 205; vgl. auch Hein (2012), S. 91. Zu Daluege bzw. Wünnenberg vgl. Wilhelm (1999), S.198 bzw. S. 237. 170 Vgl. auch Paul/Mallmann (2003). die Festigung des ›Deutschen Volkstums‹ zu sorgen oder die Bewachung und Beaufsichtigung der jüdischen Ghettos vorzunehmen. Ein bedeutender Platz in der Politik der nationalsozialistischen Terrorherrschaft kam der Ordnungspolizei in dem Moment zu, als sie neben SS und Wehrmacht an Massenerschießungen und gezielten Tötungen teilhatte. Im Schatten der Wehrmacht operierten SS und ORPO in den besetzten Gebieten und entwickelten dabei eine beträchtliche unterdrückerische Eigeninitiative. Mit dem Fortschreiten des Krieges und erst recht nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 waren die Verfolgung und Bestrafung sogenannter Banden und Partisanengruppen sowie Massenmorde das wichtigste Aufgabenfeld der Ordnungspolizei geworden. Die Ordnungspolizei beteiligte sich von Anfang an an nationalsozialistischen Verbrechen und am Terror. Sie leistete nicht nur Amtshilfe; bezogen auf ihre quantitative und qualitative Dimension sowie ihre Verbindungen zu Wehrmacht und SS war sie eine spezifisch nationalsozialistische Institution. Mit seiner Ernennung zum Chef der Deutschen Polizei am 17. Juni 1936 konnte Heinrich Himmler die unter Wilhelm Frick begonnene Reform umsetzen, den Ländern die restlichen Kompetenzen zu entziehen und die Polizeigewalt in seinen Händen zu zentralisieren.162 Die Polizei und der SD sollten, so Himmler, »das deutsche Volk als organisches Gesamtwesen, seine Lebenskraft und seine Einrichtungen gegen Zerstörungen und Zersetzung« sichern.163 Himmler konnte, nachdem er die Kompetenzen für die Polizei vom Innenministerium übernommen hatte, einen kombinierten Polizei- und Sicherheitsapparat als zentrales Instrument der nationalsozialistischen Terror- und Unterdrückungsherrschaft sowie zur Verwirklichung seiner völkischen und ›rassenpolitischen‹ Ziele aufbauen; dabei führte er die unter Frick begonnene Arbeit konsequent weiter und differenzierte sie. Von 1933 bis 1937 betrug die Stärke der Ordnungspolizei in etwa das Niveau von 100 000 Polizeibeamten, das auch zuvor bestanden hatte. Zwischen 1938 und 1939 lag dieses etwa bei 131 000 Personen. Zu Kriegszeiten stieg die Zahl der Angehörigen beträchtlich und nach einer Verdopplung in den ersten Kriegsjahren auf ca. 244 500 bis 276 000 hatte die Ordnungspolizei ihre Mitglieder bis 1944 schließlich auf die Zahl von 3,5 Millionen, einschließlich der Hilfspolizisten, nahezu verzehnfacht.164 Das personelle Reservoir der Ordnungspolizei wie der SS speiste sich aus den mittleren sozialen Schichten. Während die ORPO-Führungskräfte im Durchschnitt zumindest weiterführende Schulen besucht und eine Berufsausbildung etwa im Handwerk oder auf niedrigen Verwaltungsebenen abgeschlossen bzw. eine Polizeilaufbahn durchlaufen hatten, kamen für die SS eher akademisch gebildete Kräfte in Frage.165 Das Höchstalter für Reservisten wurde ab dem 2. Juli 1941 angepasst und sah ausnahmsweise Personen über 40 Jahre im auswärtigen Einsatz vor.166 Das mit Kriegsbeginn steigende Alter vieler Führungskräfteanwärter war für den Zusammenhalt der Ordnungspolizei zumindest anfänglich konfliktbeladen.167 Die Gründung des Hauptamtes der Ordnungspolizei durch Himmler 1936 war Teil einer großen Polizeireform.168 Damit erfolgte eine Kompetenzbündelung auf Reichsebene. Mit einer Zweiteilung der Polizei in Ordnungspolizei und Sicherheitspolizei bzw. Sicherheitsdienst (SD) in zwei Hauptämter konnte Himmler weite Teile der Exekutivgewalt kontrollieren. Chef des Hauptamtes der Ordnungspolizei wurde Kurt Daluege und nach dessen Ablösung Alfred Wünnenberg als SS- Obergruppenführer und General der Polizei ab 1943. Das Reichssicherheitshauptamt leitete Reinhard Heydrich, der zugleich einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der europäischen Juden war. Mit der Gestapo und dem SD als »›Kämpfende Verwaltung‹« verfügte er über die ideale Institution für die Umsetzung des Anspruchs, die Gegner des Nationalsozialismus zu vernichten und den NS-Staat vor ihnen zu bewahren.169 Der SD war schon 1931 als Geheimdienst der NSDAP gegründet und systematisch zu einem Nachrichtendienst aufgebaut worden, der eng mit der Gestapo zusammenarbeitete. Einen Teil der Sicherheitspolizei bildete die Gestapo, die als politische Polizei ihre Vorläufer unter anderem in der Grenzpolizei vor 1933 hatte. Diese war als politische Polizei weniger ein mächtiger Geheimdienst als vielmehr die Institution, die alle denunziatorischen Initiativen bündelte, um sie in Gewalt gegen den politischen Gegner zu übersetzen.170
59 171 Vgl. z.B. Meyer A. (2005). 172 Vgl. dazu etwa BArch NS 31/152. Die Relevanz der weltanschaulichen Schulungen für die Indoktrinierung der ›Polizeisoldaten‹ und die Ausübung von Gewalt ist noch immer Gegenstand der Forschung, vgl. Harten (2018), S. 17–26. 173 Hier wie auch bei der Leitung der weltanschaulichen Schulung wird die Verquickung von ORPO und SS deutlich, die 1939 von Joachim Caesar und ab 1942 von Adolf von Bomhard besetzt wurde, welche gleichzeitig die Verantwortung für die Schulungen im SS-Hauptamt inne hatten, vgl. Dierl (2013); Neufeldt (1957), S, 87–89. 174 Vgl. Dierl (2011), S. 32 f. Zum Selbstbild von Polizei und SS, die Seite an Seite kämpfen sollten, vgl. Das Schwarze Korps, Nr. 1 (1940), S. 10. 175 Vgl. auch Harten (2014) sowie Deppisch (2017), S. 37. 176 Zur Auseinandersetzung zwischen SA und SS vgl. Hein (2012), S. 54; zum elitären Anspruch vgl. S. 94–101. Mit der Kriminalpolizei, die im Sinne des Nationalsozialismus umgestaltet wurde, arbeitete die Gestapo gegen die politischen Feinde des NS-Staates. Mit der Schaffung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), in dem die Tätigkeiten von Sicherheitsdienst, Sicherheitspolizei und Gestapo vereint waren, verlieh Heydrich der politischen Polizei ein noch schärferes ›rassen‹- und bevölkerungspolitisches Profil. Als das RSHA 1939 gegründet wurde, entstand so ein Instrument zur Unterdrückung und Verfolgung jeglicher Regimegegnerschaft, von der konfessionellen bis zur kommunistischen. Mit Kriegsbeginn und erst recht mit dem Überfall auf die Sowjetunion wurde der Kampf gegen die vermeintliche Gefahr des Bolschewismus in den besetzten Gebieten neben der Vernichtung der Juden das Hauptbetätigungsfeld des RSHA, das auch an der sogenannten »Endlösung der Judenfrage« unter der Verantwortung Adolf Eichmanns beteiligt war.171 Im Hauptamt Ordnungspolizei waren Daluege zunächst drei Inspekteure beigestellt; das Amt wurde stetig erweitert, die Kompetenzen für die Polizeischulen hatte das im Kommandoamt enthaltene Ausbildungsamt. Dieses war mit der Erstellung der entsprechenden Lehrvorschriften und Leitfäden befasst und hatte den Unterricht der weltanschaulichen Schulungen zu organisieren, die aus den Rekruten und Anwärtern, so hoffte man, mustergültige Nationalsozialisten machen sollten.172 Mit der Zeit entstand ein vielfältiges Kompetenzgeflecht zwischen den Unterämtern, innerhalb derer die Generalinspekteure die Kontrollfunktion für die Schulen ausübten, ab 1940 der »Generalinspekteur der Schutzpolizei des Reiches«; dieser hatte die Aufsicht über die Polizeilehrbataillone (PLB), die Unterführer- und Offiziersschulen.173 Einen ersten Einsatz als Vorgeschmack auf die Rolle im Krieg hatte die ORPO 1938 beim Anschluss Österreichs. Was einerseits eine öffentlich wirksame Machtdemonstration Hitlerdeutschlands darstellte, war zugleich auch ein Testlauf für den Kriegsfall. Auch bei der Annexion der Tschechoslowakei im Jahr darauf konnte dieser noch einmal geübt werden. DAS VERHÄLTNIS VON POLIZEI UND SS Schon vor der Einsetzung der Hilfspolizisten wurde die Polizei mit Hermann Görings Runderlass vom 17. Februar 1933 aufgefordert, mit der NSDAP zu kooperieren – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur künftigen Kooperation mit Himmlers SS.174 Die Unterschiede zwischen beiden Organisationen waren zwar beträchtlich, was schon bei der Rekrutierung und den Zielgruppen der Anwerbeversuche oder bei dienstrechtlichen Belangen deutlich wird. Für Heinrich Himmler hatte die Ideologie jedoch einen unverzichtbaren und integrativen Stellenwert bei der Indoktrination von Polizei und SS. Die Ausbildung wurde, zumindest im Ideal, ganzheitlich gesehen und somit mussten auch die Polizeikräfte musterhaft und linientreu sowie repräsentabel sein – und das galt erst recht für ihre Führungskräfte und Offiziere.175 Die 1925 als Hitlers persönliche Leibgarde gegründete Schutzstaffel sollte nach einem rasanten Aufstieg in den 1920er Jahren und einer Konsolidierungsphase bis Mitte der 1930er Jahre zu einer der mächtigsten Organisationen im Deutschen Reich werden. Nachdem der Machtkampf mit der SA 1934 prinzipiell entschieden war, machte sich Heinrich Himmler daran, das Profil der SS zu professionalisieren und sie stärker rassenideologisch auszurichten. Der Wunsch nach der Etablierung einer Elite innerhalb der SS, der Waffen-SS, als deren Reservoir und Klammer die Allgemeine SS, aber auch die Spitzen von Hitlerjugend und der ›Nationalpolitischen Bildungsanstalten‹ fungierten, war auch die Folie für die Entwicklung der Ordnungspolizei. Nicht auf einer Stufe aber mit der Möglichkeit von Aufstieg und Partizipation sollte diese auf lange Sicht mit der SS sowie den Sicherheitsdiensten zu einem ›Staatsschutzkorps‹ verschmolzen werden.176 Die Realisierung scheiterte jedoch aus verschiedenen Gründen, etwa den unterschiedlichen Herkunftsmilieus und den daraus resultierenden Gegensätzen bei der Bildung, ideologischen Defiziten, aber auch Rivalitäten in der Organisation. Letztlich war eine Umsetzung bis zum Ende des Krieges nicht möglich. Nichtsdestotrotz waren die Grenzen zwischen beiden Organisationen oft fließend, die weltanschaulichen Standards gleich; vor allem aber war das gemeinsame Ziel die Herausbildung des NS-Vernichtungs- und Unterdrückungsapparates. Die Durchdringung von SS und Polizei vollzog
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