137 Es ist anzunehmen, dass gerade die Rückkehr der Roten Armee 1948 den günstigen Umstand dafür bildete, dass die Nutzung des Festspielhaus-Ensembles durch den Hellerauer Kulturverein in den 1990er Jahren möglich wurde. Ob die Volkspolizei und spätere Landespolizei jenen Standort im Falle einer Inbesitznahme zum ähnlichen Zeitpunkt freigegeben hätte, wie die schnell abziehende Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, darf gewiss zweifelhaft erscheinen. Als der Platz vor dem Festspielhaus im Sommer 1992 erstmals von der Europäischen Werkstatt für Kunst und Kultur Hellerau bespielt wurde, war die Übertragung der Immobilie an diese noch nicht abgeschlossen und die letzten Truppen der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte hatten das Festspielhaus und die umliegenden Gebäude gerade ein Jahr verlassen. Der Freigabe der Immobilie war zuvor eine fast literaturreife Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Behörden im Hintergrund vorausgegangen: Während auf der Seite der Staatskanzlei und der Oberfinanzdirektion Chemnitz, die für die Liegenschaft zuständig war, eine prinzipielle Bereitschaft für die Ermöglichung eines Kunst- und Kulturbetriebs bestand, versuchte ein Referatsleiter der Bundesvermögensverwaltung das Vorhaben zu verzögern und zu verschleppen; nur eine Intervention der Staatskanzlei konnte das Blatt schließlich wenden.496 Im Jahr 1991 schienen die Voraussetzungen für eine nun dauerhafte kulturelle Nutzung so gut wie kaum je zuvor und dennoch gab es viele Zweifel, ob der Wandel dieses Mal gelingen könnte. Zu oft schon wurde, wie gezeigt werden konnte, ein ökonomisches Vakuum vor Ort allzu leicht für eine Verfremdung des eigentlichen Zwecks der ehemaligen Bildungsanstalt genutzt; und jedes Mal gab es eine gewisse Euphorie und Aufbruchsstimmung.497 (Abb. 43, 44) Während diese zunächst von der Gründung der Bildungsanstalt bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges angedauert hatte, sollten einige Jahre bis zur nächsten Blüte zu Beginn der 1930er vergehen. Diese war auf lange Sicht gesehen jedoch wenig fruchtbar und sie stand unter dem Vorzeichen der Destruktion. Zuvor hatte sich mit nur noch improvisiertem Charakter, der endemischen Visionslosigkeit und der bloßen Reaktion eine, wenn man so will, strukturelle Strukturlosigkeit als Geschäftsgrundlage des Unternehmens eingestellt: eine Resignation, die sich mit den finanziellen Krisen selbst verstärkte. Die Engagements der Staatsoper und vielleicht noch die Einrichtung der Wohlfahrtsschule hätten die Chance besessen, dem Areal einen wenigstens teilweise angemessenen Verwendungszweck zu geben. Was sich vorher als prinzipieller Vorteil für einen Kulturbetrieb erwiesen hatte – und, nebenbei, in der Gegenwart wieder als Vorteil gelten darf, nämlich die Offenheit, Schlichtheit und Veränderbarkeit des Gebäudeensembles –, sollte sich als dessen größtes Risiko erweisen. Zufällige Aufmerksamkeit seitens der Reichsbehörden – Reichsfinanzministerium, Innenministerium, Hauptamt der Ordnungspolizei und der expandierende rassistisch-militärische Komplex – traf sich mit der vorhersehbaren Misere des lokalen Akteurs Bildungsanstalt, die danach trachtete, ihr Geschäft wenigstens zu einer teilweise zufriedenstellenden Abwicklung zu bringen. Lokale Ignoranz und Lethargie arrangierten sich mit nationaler Selbstüberschätzung, Rassenwahn und Vernichtungswillen. Die Unzufriedenen ließen sich nicht nur bereitwillig vereinnahmen, sondern beteiligten sich aktiv an der Selbstgleichschaltung, wobei die Durchsetzung des Prinzips von ›Blut und Boden‹ und der Wille zum Gehorsam in der Gartenstadt weniger einer Machtergreifung entsprechend verlief, als vielmehr einer Machtübergabe. Gerade in dem kulturpolitischen Gemenge rund um die Bildungsanstalt und den Geist von Hellerau verstand man es, wie auch in der Polizeiarbeit, gleichsam mustergültiger zu sein, als die nationalsozialistische ideologische Vorlage und auch hier Hitler »entgegen zu arbeiten«.498 Die Folgen für den Ort und die Welt gleichermaßen sind bekannt und bis heute sichtbar. Wie von vielen Orten in Deutschland, so gingen auch von Hellerau Tod und Vernichtung aus, sowohl durch Feigheit und Mitläufertum, als auch gezielt durch institutionalisierte Schulung zur Gewalt, die sich in und um das Polizeiausbildungsbataillon manifestierte. Mit der Aufgabe des Hellerauer Standortes am Ende des Zweiten Weltkriegs und der Übernahme des Areals durch die Rote Armee endete auch ein Kapitel des blutigen Engagements der nationalsozialistischen Ordnungspolizei in Europa und Deutschland, unter deren Verantwortung nach vorsichtigen Schätzungen weit mehr als 600 000 Menschen ermordet wurden.499 496 Hierbei spielten dessen persönliche Beziehungen zu Verantwortlichen der GSSD eine Rolle. Das Grundstück sollte an den Freistaat, zugunsten des Vereins, übertragen werden, vgl. SächsStA 12891/80, Schriftverkehr der Staatskanzlei mit dem Förderverein Hellerau zwischen Januar und September 1992. 497 Zur Entwicklung des Areals zwischen 1990 und 2010 vgl. Deutscher Werkbund Sachsen (2009), S. 68–82. 498 D. h. Hitler nicht nur voraus eilend entgegen zu kommen sondern Erwartungen überzuerfüllen; vgl. »Dem Führer entgegen arbeiten«, Kershaw (1998), S. 663–744. 499 Vgl. dazu Klemp (2011), S. 542–546.
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1