19 29 Zu Dalcrozes Engagement in Hellerau und darüber hinaus vgl. Tervooren (2002). Dennoch gedieh eine vielfältige Szene von Kunst- und Kulturschaffenden sowie Reformpädagogen, die dem Areal um das Festspielhaus nach einer Zeit des teilweisen Leerstandes ab 1919 neues Leben gaben. 30 Vgl. Sarfert (1992), S. 62f.; Tervooren (2002), S. 208–229; siehe auch den Nachruf mit beiliegendem Werbeprospekt anlässlich des Todes von Christine Baer-Frisell 1932, StA Dresden 9.1.36/8, Bl. 123 f.; Fleischle-Braun (2020). ZEIT DER EXPERIMENTE UND FINANZIELLE UNSICHERHEIT DER BILDUNGSANSTALT Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stand die Bildungsanstalt Hellerau auf finanziell unsicherer Basis und musste sich verschiedenen Angeboten öffnen, um über die Runden zu kommen. Die scheinbar neuen kulturpolitischen Ambitionen des Ortes ab 1933 konnten sich einer beträchtlichen Zustimmung und deutlicher Kontinuitäten aus der Vorkriegszeit versichern, für die die Ausbildung einer ortsspezifischen Geltung und eines entsprechenden Habitus die Grundlage bildete. Das Rhythmikprojekt der Bildungsanstalt von Émile Jaques-Dalcroze war durch dessen neue Engagements in Genf zunächst gescheitert – bereits 1915 wandte dieser sich anderen Projekten zu.29 Neben der Vermietung an verschiedene Bildungseinrichtungen und Gewerbe, nahm auch die Bereitstellung von Wohnraum eine stetig wachsende Bedeutung ein. Während einige der reformpädagogischen Versuche nach kurzer Zeit bereits wieder eingestellt wurden, war anderen, etwa der »Versuchsschule Hellerau«, eine längere Existenz beschieden. Die Konzepte der Schulversuche waren dabei höchst unterschiedlich und nur von bedingt vergleichbarer Qualität: die Finanzierung erfolgte überwiegend, wie auch bereits bei der Dalcrozeschen Bildungsanstalt, durch die Beiträge der Zöglinge. Zusammen mit ihren einstigen MitschülerInnen Ernst Ferand-Freund und Valeria Kratina leitete Christine Baer-Frisell die »Neue Schule für Rhythmik, Musik und Körperbildung«, die in Hellerau bis 1925 bestand, ehe sie nach Laxenburg bei Wien umzog. Dort behielt sie den Verweis auf den renommierten Herkunftsort zumindest noch im Namen. In der Vermittlung rhythmischer Körperbildung orientierte sich die Schule stark an den Methoden von Dalcroze; dessen SchülerInnen Ferand-Freund und Kratina versuchten seine Methoden weiterzuentwickeln und hatten sich auch bei Rudolf von Laban und Mary Wigman fortgebildet.30 Mit der von Carl Theil gegründeten »Neuen Schule Hellerau«, die von 1919 bis 1925 bestand, oder der antiautoritär unterrichtenden International School von Alexander Sutherland Neill und der Versuchsschule Hellerau gab es Kooperationen. Der Förderung der Verbindung von Körper und Geist wurde bei allen reformpädagogischen Konzepten große Wichtigkeit beigemessen, Bewegung und gymnastische Bildung sollten in ganzheitlichem Verständnis die natürlichen Voraussetzungen geistiger Entfaltung begünstigen. Von den pädagogischen Institutionen am Platz hatten das Töchterheim der Mathilde-Zimmer-Stiftung sowie die zeitweise auf dem Gelände der Bildungsanstalt befindliche Dora-Menzler-Schule am längsten Bestand und Einfluss auf das kulturelle Leben der Gartenstadt. Nach dem Umzug aus Leipzig 1931 führte die Schule bis 1952 den Lehrbetrieb in Hellerau fort, zunächst in den Räumen der Bildungsanstalt GmbH, ab 1935 am Tännichtweg. Obwohl Menzler als sogenannter Halbjüdin die Leitung ihrer Schule ab 1933 untersagt war, konnte sie mit Hilfe ihrer Schülerin Hildegard Marsmann den Betrieb fortführen, wenngleich sie nur noch eine Nebenrolle bei der Ausbildung spielte. Das Konzept von Tanz, Bewegung und Gymnastik als Ausdrucksmittel des Körpers und dessen Vermittlung ging dann später auch konform mit dem Körper- und Frauenbild des Nationalsozialismus (Abb. 1, 2). Andere, teils erzieherische Schwerpunkte, hatte auch die Handwerkergemeinde unter der Leitung von Heinrich Tessenow. Im Verständnis Tessenows ging die idealisierte kleinstädtische Lebensweise mit der handwerklichen Produktion für einen lokalen Markt einher. Das handwerkliche Lernen am Werkstück und die Fertigung kleiner Serien nahmen einen zentralen Platz bei der Produktion von Kunsthandwerk und Gebrauchsgegenständen ein – im Gegensatz etwa zu Karl Schmidt und der industriellen Herstellung seiner Deutschen Werkstätten. Eine Ständegesellschaft en miniature, mit dem Handwerkermeister an der Spitze seiner Gesellenschar, wurde fast mythisch verklärt und zelebriert. Zum Ausbildungsbetrieb gesellten sich recht schnell die vielfältigsten Kunstgewerbe; neben einer Tischlerei, die als einzige das Ende der Handwerkergemeinde überdauern sollte, Buchdruckerei und Verlag von Jakob Hegner, Silber-
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