Leseprobe

65 Zunächst sei eine Bemerkung zur Methodik des Beitrags vorausgeschickt: Der Aufsatz ist kein Resultat einer gezielt an einer Fragestellung orientierten Quellenrecherche. Vielmehr handelt es sich um den Versuch der Kontextualisierung von quellenmäßigen »Beifängen« oder gar Zufallsbefunden, die sich über Jahre hinweg aus verschiedenen Recherchetätigkeiten, gewissermaßen en passant ergeben haben. Die Summe dieser wissenschaftlichen »Beifänge« führte jedoch schließlich zur gewählten Thematik. Zwei Fragestränge spielten dabei eine Rolle: Zum Einen stellte bereits die Aufklärung die Frage, wie es angesichts neuer wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, politischer Herausforderungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um die »geistige Verfasstheit« ihrer Zeitgenossen bestellt sei. Zum Zweiten erweckt der öffentliche Umgang mit der Geschichte der Stadt nach dem Siebenjährigen Krieg den Eindruck, als seien am Ende jenes Jahrhunderts ganz spontan die ersten Fabriken aus dem Nichts oder zumindest aus einem rein handwerklich determinierten Untergrund gewissermaßen »aufgeploppt«. Fragestellungen wie etwa mentalitätsgeschichtliche, die den zweifelsfrei gewichtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruch im Übergang vom Feudalabsolutismus zum Industriekapitalismus zwangsläufig flankierten, ja diesem als conditio sine qua non immanent waren, spielten bislang in der Chemnitzer Geschichtsbetrachtung keine sonderliche Rolle. Die Quellen aber lassen deutliches Potenzial zur Beantwortung entsprechender mentalitäts- und alltagsgeschichtlicher Fragen erkennen. Und an diesen Indizien für Veränderungen in der »geistigen Verfasstheit« der Hauptmasse von in Chemnitz ansässigen Warenproduzenten als Grundlage für die Aufnahme neuer gewerbespezifischer Gedanken, Anschauungen und Konzepte setzen die folgenden Ausführungen an (Abb. 1). Als die Chemnitzer Bäckersgattin Anna Rosine Eichler Mitte des 18. Jahrhunderts für immer ihre Augen schloss, hinterließ sie ihren Nachkommen einen denkwürdigen und besonderen Besitz: Die Gattin des Obermeisters der »Weißbecken zu Kempnitz« vermachte testamentarisch ihren Kindern eine ansehnliche Bibliothek, zu der neben dem obligatorischen Chemnitzer Gesangbuch, Erbauungsliteratur und einer Wittenberger Bibel von 1618 noch insgesamt 85 »Bücher groß und klein« der verschiedensten Fach- und Wissensgebiete gehörten1 – eine für das 18. Jahrhundert immense Quantität, wie sie selbst heute nicht die Regel sein dürfte. Anna Rosine Eichler hatte bereits von ihrem Vater, dem Bäckermeister Adam Gottlieb Kempe, der nebenbei in der Stadt auch als Fechtmeister reüssierte, einige wenige Bücher geerbt, darunter die »Chronica« des Görlitzer Handwerkers, Stadtschreibers und Philosophen Jacob Böhme. Den überwiegenden Teil ihrer Bücher jedoch hatte sie die Jahre ihrer Ehe hindurch selbst erworben.2 Obwohl der Fakt des Besitzens allein noch nichts darüber aussagt, inwiefern diese Bücher gelesen und damit deren Bildungsinhalte auch ausgeschöpft wurden, widerspräche es dem pragmatischen Sinne eines Handwerkers, eine Ware, einen Wert zu erwerben, ohne ihn im vorgedachten Sinne zu nutzen,3 vor allem, wie später noch zu sehen sein wird, wenn es sich um Bücher zur unmittelbaren Profession ihrer Besitzer handelt. In Anna Rosines Testament offenbaren sich neue Bildungsbedürfnisse, die weit über einem allgemein angenommenen Niveau der auf Haus und Werkstatt orientierten Stadtbürger lagen.4 Das Beispiel macht zudem einen Paradigmenwandel deutlich: Seit dem Beginn der Frühen Neuzeit mochten Chemnitzer Handwerker als »gebildet« gegolten haben, wenn sie ein wenig rechnen und schreiben konnten oder als »Hausväter« in der Lage 1 Ansicht der Stadt Chemnitz, sog. »Weberinnungsbild«, Kat. I.1

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