66 waren, der Familie aus der Bibel vorzulesen. Darüber hinausgehende Bildungsbedürfnisse waren der Bürgerschaft in einer primär auf handwerkliche Produktion ausgerichteten Gemeinde wie Chemnitz eher suspekt: Man war geneigt, das, was ein Handwerksmeister über seine Profession hinaus verstand, von dessen Gewerbefähigkeit zu subtrahieren. Wir werden sehen, dass dieses Urteil den Gewerbetreibenden Unrecht tut. Denn obwohl es natürlich in der Existenz »des Handwerkers« anhaltend zähe Konstanten gab, bestand gleichfalls, nicht zuletzt vor dem prägenden Hintergrund gesellschaftlicher Erscheinungen, zu denen Krieg, Seuchen, eine frühe Globalisierung u.ä.gehörten,die Notwendigkeit, sich vor allem innerhalb seiner Tätigkeit weiterzubilden und fachliches Know-how permanent auszubauen: Um diesem Aspekt nachzugehen, ist es zunächst einmal erforderlich, den beliebigen Werktag eines durchschnittlichen Chemnitzer Handwerksmeisters zu rekonstruieren und dabei sein Verhältnis zu Bildung, zu neuen Bildungsinhalten und deren Einfluss auf seine gewerbliche Tüchtigkeit im Auge zu behalten. Da begegnet uns eine unseren Alltagsregelungen krass zuwiderlaufende Lebenswelt: Um die natürlichen Lichtverhältnisse optimal auszunutzen, stand man, in Abhängigkeit vom Sonnenstand während der Jahreszeiten, sehr früh auf, im Sommer bereits zwischen 4 und 5 Uhr. Die Morgenglocken der Kirchen forderten noch den arbeitsunwilligsten Gesellen nachdrücklich zum Verlassen seines Strohsacks auf, indem sie alle Viertelstunde läuteten. Wenig später trafen sich die Inwohner des Meisterhaushalts zum gemeinsamen Morgengebet und zum Morgenmahl. Danach schloss sich ein früher Gottesdienst und der Arbeitsbeginn in der Werkstatt an. Nachdem der Meister Gesellen und Lehrlinge in ihre Aufgaben eingewiesen hatte, ließ ihn die Zunft durch ihren jüngsten Meister aufs Zunfthaus zur gemeinsamen »Morgensprache« bitten. Hierbei war die Anwesenheit aller Zunftmeister Pflicht, denn alle zunftrelevanten verfassungsrechtlichen, produktionstechnischen oder merkantilen Fragen wurden durch die Gemeinschaft, nicht durch das Votum Einzelner geregelt. Während der Morgensprache vertrat der Altgeselle den Meister in der Werkstatt. Mittlerweile war es nach 5 Uhr, die nachts verschlossenen Stadttore wurden geöffnet, und der Ratsdiener traf sich mit den Torwachen und jenen Handwerkern, die den nächtlichen Wach- und Streifendienst wahrgenommen hatten. Man rechnete die für Ruhestörung, das Ausschütten der Kammerlauge aus den Fenstern oder Verstöße gegen die Brandschutzverordnung verhängten Strafgelder ab. Die Meister kamen von der Morgensprache »auf der Zunft« zurück und begegneten unterwegs dem Marktmeister, der mit seinen Gehilfen Vorkehrungen zum Öffnen des Marktes traf. Mit den Handwerksmeistern, die im Versorgungsgewerbe für den lokalen Markt arbeiteten, loste er die Reihenfolge der Verkaufsstände aus. Die Meister belegten die Stände mit ihrer Ware, die sofort vom Marktmeister hinsichtlich ihrer Qualität begutachtet wurde. Gegen 10 Uhr begaben sich die Ratsherren zur Ratssitzung. Auch die Obermeister der Zünfte wurden »coram senatu aufs Rathaus zitiret«, sofern obrigkeitliche Fragen zu den Zunftstatuten zur Klärung anstanden. In der Werkstatt wurde bis etwa 14/15 Uhr straff durchgearbeitet, danach traf man sich im Meisterhaushalt zur zweiten Mahlzeit des Tages. Diese fiel etwas opulenter aus: Es gab Suppe, ein Stück Fleisch mit »Zugemüs«, Grütze, Erbsbrei, Rüben o.ä., ganz nach wirtschaftlicher Lage oder Freigiebigkeit bzw. Knausrigkeit der Meisterin. Am Nachmittag trafen in der Regel die Wandergesellen an den Stadttoren ein und wurden auf die Herberge ihres Gewerbes verwiesen. Die Gesellen der Zunft erschienen zum gemeinsamen Umtrunk, denn die Einwandernden waren ihre Zeitung aus der Welt draußen hinter der Stadtmauer und Träger willkommener neuer Kenntnisse im Sinne eines gewerblichen Technologie2 Grabkreuz für Michael Neuber, Kat. III.9
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