Leseprobe

67 transfers. Inzwischen schaute sich ein einheimischer Geselle in der Stadt nach Arbeit für die Ankömmlinge um. Am Nachmittag musste neben der Arbeit in der Werkstatt weiteren zünftigen Pflichten Rechnung getragen werden: Im Falle des Ablebens eines Meisters oder seiner Gattin begleitete das Handwerk den Sarg, danach traf man sich beim Bier, um auf das Totengedenken zu trinken (Abb. 2). Gegen 17 Uhr schließlich nahm man in der Werkstatt ein Vesperbrot zu sich. Schließlich gebot zwischen 19 und 20 Uhr der Meister Feierabend oder, was häufig erforderlich war, ordnete Überstunden an. Um 21 Uhr war schließlich »Schicht«: die Stadttore und die öffentlichen Häuser – Schankstuben und Frauenhäuser – wurden geschlossen. Im Meisterhaushalt beendete das gemeinsame Nachtmahl aller Angehörigen des »ganzen Hauses« mit Käse, Brot und Bier den Tag. Der Meister gebot Nachtruhe. Was lässt sich aus diesem Tagesablauf ablesen? Nun, es sind drei feste Bezugsgrößen, die den Handwerker im Tagesablauf einem strengen Regiment unterwerfen. Es sind dies die Stadt (Obrigkeit), schließlich Gott (Kirche) und Profession (Zunft); alle drei finden sich als zentrale Elemente in bildlichen Selbstzeugnissen wie dem Weberinnungsbild von 1780.5 Der gesamte Tag eines Handwerkers, gleich, auf welcher Stufe der zünftigen Hierarchie er auch stehen mag, ist primär auf Arbeit – auf Produktion, Planung, Verkauf – sowie auf die dafür notwendige persönliche Reproduktion ausgerichtet. Dies entspricht seinem tradierten Selbstverständnis, und exakt dieses erwartet die Gesellschaft von ihm: Im zeitgenössischen Sprachgebrauch heißt das: »Der handtwerker hat tüchtig zu sein!«6 Hier, quasi am Vorabend der industriellen Revolution, wird dezidiert noch einmal – und dies ausdrücklich – ein Terminus aus dem hohen Mittelalter bemüht: »Tüchtigkeit« geht auf das mittelhochdeutsche tuht [tauglich] zurück. Der Handwerker muss »tüchtig« sein in seiner Profession, seine Ware »tüchtig« für den Verkauf: Ein Meister muss damit in der Lage sein, markttaugliche, marktgängige Ware zum Wohle des Gemeinwesens zu produzieren. So heißt es noch 1780 auf dem Interieurbild einer Chemnitzer Weberstube (Abb. 3): »Liebt Frömmigkeit und Fleiß, macht eure Waaren tüchtig./Und schämt euch des Betrugs, meßt ohne Vortheil richtig; / So lohnt Gott euer Werck,mit Segen und Gedeyhn,/Und so wird Chemnitz stets berühmt und glücklich seyn.«7 Kein Wunder also, dass die alte, scheinbar auf längst vergangene Zeiten zurückgehende Forderung auch 1780 noch vorkommt und sich gleichsam als »roter Faden« durch bildliche und schriftliche Quellen, von Selbstzeugnissen über Handwerksordnungen bis hin zu Liedgut und Belletristik, finden lässt. Was hier, in seiner fast mittelalterlichen Diktion auf den ersten Eindruck eher rückwärtsgewandt klingt, erfährt seine Aktualisierung aus der zeitgenössischen Entwicklung und lässt einen hochaktuellen, nach neuen Wegen heischenden Aspekt mitklingen: Tüchtigkeit bedeutet, dass ein zünftiger Handwerker, der, wie etwa die textilen Gewerbe in der Stadt, für einen nunmehr weltweiten Markt arbeitet, seine Nase auch deutlich über die Stadtmauer hinaus in die »Welt«, also in ebenjenen globalisierten, nicht mehr an der Stadtmauer endenden Markt, stecken muss.8 Die Zünfte selbst wachen zwar dem Buchstaben nach auch im 18. Jahrhundert noch darüber, dass innerhalb eines Gewerbes niemand einen ökonomischen Vorteil gegenüber seinen Innungsverwandten, sei es durch die Einführung technologischer Neuerungen oder durch Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse, erlangen konnte.9 Dies beginnt sich jedoch deutlich zu ändern, denn genauso selbstverständlich wird nun das Bewusstsein, dass man wirtschaftliche und soziale Katastrophen riskierte, hätte man versucht, den Handwerker von jeder Form von zusätzlicher Bildung, nicht zuletzt, ja vor allem neuer fachlicher Natur, fernzuhalten.10 Um das Phänomen »Bildung« in den richtigen kulturellen Kontext zu setzen, muss man differenzieren zwischen berufsspezifischer auf der einen und weiterführender individueller Bildung innerhalb des gewerblich determinierten Bevölkerungsteils in der Stadt Chemnitz auf der anderen Seite. Schauen wir uns deshalb zunächst jene Institutionen an, die dafür in der Stadt zur Verfügung standen. Wenn man am Ausgang des 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Sachsen einem »aufgeklärten« Zeitgenossen die Frage nach der Bildung eines zünftigen Handwerkers gestellt hätte, so hätte man ziemlich stereotyp Worte wie »rückständig«, »wenig gebildet« oder »desinteressiert« zur Antwort bekommen.11 3 Interieur einer Chemnitzer Weberstube, Kat. III.1

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