68 Doch werden diese Prädikate aus der Sicht dezidiert bürgerlich-kapitalistischen Leistungswillens im Industriezeitalter verliehen; sie werden dem Handwerker nicht im tatsächlichen Sinne gerecht. Schon gar nicht gerecht wird ihm der gleichfalls erhobene Vorwurf der absoluten Bildungslosigkeit. Man muss die Frage nach Bildung in ihrer Zeitbezogenheit stellen. Johann Stuve, von der deutschen Aufklärung geprägter und auch in Chemnitz rezipierter Hamburger Pädagoge, schreibt 1785 in seinen »Allgemeinen Grundsätzen der Erziehung«: »[...] so notwendig die Verschiedenheit der Stände und der Geschäfte, des Ansehens und des Vermögens ist, so notwendig ist auch die Verschiedenheit der Ausbildung der Körper- und Geisteskräfte. Der Landmann, der Handwerker, der Soldat, der Künstler, der Gelehrte, der Regent müssen jeder für seine Verhältnisse ausgebildet werden.«12 Dieser zentralen, für die Epoche der Frühen Neuzeit gültigen Forderung nach standesgemäßer Bildung hatte neben dem späteren »Berufsbildner« Zunft auch das Chemnitzer respektive sächsische Schulwesen zu entsprechen, das seit Ausgang des Spätmittelalters neben den Lateinschulen die sogenannten deutschen Schulen für beide Geschlechter, für Knaben und »meigdlein«, kannte. Die Chemnitzer Lateinschule hatte ihre erste Blüte bereits an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert erlebt, doch war von ihrer vormaligen Bedeutung zum Ende des 18. Jahrhunderts kaum mehr etwas übriggeblieben. Sie erhielt von Zeitgenossen das Prädikat einer »armseeligen Gelehrtenschule alten Styls«.13 Dennoch schickten auch viele Handwerker ihre Kinder auf die höhere Schule; ein verstärktes Hinwenden zu höherer Schulbildung unter dem Aspekt, den Kindern durch Absolvieren einer höheren Schule ein Studium und damit einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen, lässt sich in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts durchaus in der Tendenz erkennen. Man muss außerdem klar benennen, dass es nicht nur Kinder aus dem Handwerk waren: Gerade an der Chemnitzer Lateinschule finden sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 25- und 28-jährige Leineweber, die, wie aus den Matrikeln zu erfahren ist, aus beruflich notwendigem »unstillbaren Wissensdurst« ans Lyceum gekommen waren.14 Vorrangig jedoch sollten sich die deutschen Schulen den Bildungsbedürfnissen künftiger Handwerker widmen. Diese Institutionen wurden seitens der Handwerker- und Kaufmannschaft nachhaltig unterstützt, vor allem weil, wie es in einer kollektiven Petition aus diesen Kreisen heraus heißt, »Jungenn Knabenn so zum Latein nicht geschicket, nichts nutzlicher, dann sie in dewtschen Schulen mit guten Schrieften unnd Rechnungen megen unterweist werden, damit sie beide handwergks und handelsleuth nutzlich und dienstlich sein konnen [. . .]«.15 Dies sollte die Norm sein, jedoch werden wir hier erneut mit einer Erscheinung konfrontiert, die erkennen lässt, dass sich eine einstmals relativ homogene Bevölkerungsgruppe weiter ausdifferenzierte: Die Chemnitzer Gewerbelandschaft ist durch die »textilen« Gewerbe geprägt – Gewerbe, in denen der Bedarf an Hilfskräften – Frauen und Kindern – besonders hoch war. Und dann gab es nach dem Siebenjährigen Krieg die etwa 20 als »Fabriquen« bezeichneten Wirtschaftsbetriebe16 in der Stadt, in denen regelmäßig und dauerhaft eine recht erhebliche Zahl an Kindern arbeitete.17 Es verwundert daher nicht allzu sehr, und das spricht dezidiert für einen neuen handwerklichen Bildungswillen in jenem Zeitraum, wenn den offiziellen Bildungseinrichtungen in Stadt und Land Konkurrenz durch bildungsvermittelnde, inoffizielle Einrichtungen erwuchs.18 Bereits kurz nach Ende des Siebenjährigen Krieges, während der Anlaufphase des großen sächsischen Rétablissements wurden im Jahr 1766 insgesamt 26 sogenannter Klipp- und Winkelschulen, in denen eine stattliche Anzahl Kinder unterrichtet wurde, beim Chemnitzer Rat zur Anzeige gebracht. Die Bandbreite des Unterrichtens in den vom städtischen Lehrkörper massiv angefeindeten Winkelschulen reichte vom Vorbeten und Memorieren einzelner Bibelpassagen über die berufsnotwendige Elementarbildung (Lesen, Schreiben, Rechnen), ferner über tatsächlich berufsspezifische Aspekte (Musterzeichnen) hin zu Inhalten, die an »höheren« gesellschaftlichen Leitbildern orientiert waren, wie Klavier, Fremdsprachen (Französisch) und Fechtunterricht.19 Sie bilden damit ein weiteres Indiz für ein deutliches Ausdifferenzieren der scheinbar so homogenen Schicht der Chemnitzer Handwerkerschaft: Das Beispiel »Klavier, Fechten, Französisch« korrespondiert mit dem zeitgenössischen englischen Sprichwort »Every handyman is a tradesman, every tradesman is a merchant, every merchant is a gentleman« und mag hier seine Entsprechung in neuen gesellschaftlichen Leitbildern auch unter Personen aus dem Chemnitzer Handwerkerstand finden. Zwar mag die Qualität des Unterrichtens, etwa durch die Person der »gaßenvoigtin« recht miserabel gewesen sein, jedoch musste in einer Anzahl anderer Fälle selbst der Rektor der städtischen Lateinschule ausdrücklich konstatieren, dass viele seiner Zöglinge durch die Winkelschulhalter »privatim [...] gut zur öffentlichen Schule vorbereitet« worden seien.20 Trotz der zum Teil vernichtenden Kritiken, die seitens der Zeitgenossen, wie etwa Christian Gottlob Heyne, gegen die Chemnitzer Schulen erhoben wurden, waren diese nichts anderes als normentsprechend. Sie taten exakt das, was gesellschaftlich von ihnen erwartet wurde, nämlich der geforderten standesgemäßen Bildung Rechnung zu tragen, und sie taten es – wenngleich sich dies nur in Einzelfällen quellenmäßig manifest machen lässt – mit deutlicher Orientierung auf die europa-, ja weltweit veränderte Gewerbelandschaft. Daher spielten nun im Kontext des schulischen wie auch außerschulischen berufsbezogenen Bildungserwerbs noch weitere, über die tradierten Bildungsinstitutionen hinausgehende Faktoren eine gewichtige und ausschlaggebende Rolle. Es sei nochmals daran erinnert, dass der Maßstab für das gesellschaftliche Ansehen eines Handwerkers in der Stadt des 18. Jahrhunderts nach wie vor seine berufliche Tüchtigkeit war (Abb. 4). Die darin implizierte Markttauglichkeit seiner Produkte setzte die bewusste und durchdachte Auseinandersetzung mit den Konsumwünschen der potenziellen Kundschaft voraus, wo immer diese sich finden
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