Leseprobe

69 sollte, sei es über holländische Zwischenhändler auf den westindischen Inseln, in der Nachbarstadt oder auf dem lokalen heimischen Markt. Der Handwerker musste wissen, was gerade Mode war, musste im vorherrschenden Zeitgeschmack, im Stil seiner Zeit gängige Ware herzustellen wissen. Für den Gesellen, der gedachte, sein Meisterrecht zu erwerben, war die Walz, die Wanderung, Pflicht.21 Ausnahmslos alle verbindlichen zünftigen Gesetzesvorlagen hielten noch im 18. Jahrhundert am Wanderzwang für Meisterrecht begehrende Gesellen fest; im Durchschnitt schrieben die Statuten zwei bzw. drei Jahre Walz als Minimalzeit vor; doch waren Gesellen, die ihre Wanderschaft auf sechs, sogar auf zehn Jahre ausdehnten, keine Seltenheit. Die Zunft verfolgte mit dem Wanderzwang drei zentrale Motive: zunächst die Begrenzung der Meisterzahl vor Ort, um das Prinzip der gleichen Nahrung für die Innungsverwandten zu gewährleisten. Zum Zweiten werden auf der Wanderung wichtige moralische Werte des Gesellen vervollkommnet. Der wandernde Geselle unterliegt einem ungeschriebenen, tradierten Ehrenkodex, der u.a. seine unbedingte Ehrlichkeit fordert. Selbstredend stellt Stehlen einen nicht wieder gutzumachenden Frevel dar, zugleich aber wird er darauf orientiert – und damit kommen wir zum eigentlichen Hauptzweck der Wanderung –, dass er so viel als möglich »mit den Augen zu stehlen« hat. Diese Forderung sagt im Kern nichts anderes, als dass der Geselle zum Nutzen seines Handwerks alle Modernisierungen im Gewerbe, alle modischen, stilistischen, verfahrenstechnischen, wissenschaftlichen, technologischen, merkantilen usw. Neuerungen auszuforschen und in den Katalog seiner individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, zum späteren korporativen Nutzen aufzunehmen hat. Damit fördert man Technologietransfer, und aus diesem Grunde orientieren die Zünfte im Zuge der Wanderjahre des Gesellen auf konkrete Wanderziele, nämlich in jene Regionen oder Städte, in denen das Gewerbe »im besonderen Schwange steht«.22 Das tut die Zunft dezidiert noch bis ins 19. Jahrhundert hinein mit Erfolg. Dass in Chemnitz hochqualitative Produkte nach niederländischem oder englischem Vorbild verfertigt wurden, hat seine Ursache nicht in nennenswertem Zuzug aus den beiden Gebieten, sondern im intendierten Technologietransfer der Wanderung. Dazu einige Beispiele: Fall Nummer eins – die Buchbinder.23 Sie sind in der Chemnitzer Gewerbelandschaft des 18. Jahrhunderts ein typisches Randgewerbe: geachtet im städtischen und zünftigen Kontext, für einen lokalen bzw. begrenzt regionalen Markt arbeitend, jedoch – im Gegensatz etwa zu ihren universitätsnahen Leipziger oder den für eine gänzlich andere Klientel in der Residenzstadt arbeitenden Dresdner Innungsverwandten – völlig unbeeinflusst von Zeitströmungen. Weil die Chemnitzer Buchbinder bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein nicht auf äußere Zwänge reagieren mussten, bestand das Nonplusultra handwerklicher Fertigkeit, wie es sich in den genauestens reguliert abzulegenden Meisterstücken niederschlug, in der Produktion von Sachwerten, die sich seit dem 16. Jahrhundert nicht verändert hatten. Um 1775 herum gab es nun aber keinen Bedarf mehr an den Foliant-Einbänden »mit Filletten, Buckeln und Klausuren«, die schon die Hanns-Lufft-Bibel von 1542 geziert hatten.24 Nunmehr erforderte der empfindsame 4 Zunftlade der Chemnitzer Strumpfwirker, Kat. III.4

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