110 einer Entwicklung, die bereits seit Jahrhunderten etabliert war und für die unterschiedlichsten Zwecke Anwendung fand. Genannt seien hier neben einfachen Häusler- und gehobenen Bürgeranwesen vor allem die Bauern- und Rittergüter sowie Landschlösser mit ihren Ställen, Scheunen und Remisen, dazu die Mühlenanlagen jeglicher Art und Zweckbestimmung, die Gebäude mit Bezug zum Montan- (Huthäuser) oder zum Militärwesen (Magazine und Speicher) sowie Hammerwerks- und Hüttenkomplexe einschließlich der zugehörigen Nebengebäude. Beinahe sämtliche architektonischen Motive, die im späten 18. Jahrhundert für die Bauten der Kattunproduktion, aber auch anderer Wirtschaftszweige relevant werden sollten, sind hier vorgebildet. Die häufig bis heute kaum bekannten Baumeister entstammten meist dem handwerklichen Milieu der Dörfer und Kleinstädte und hatten eine Ausbildung als Maurer-, Tischler- oder Zimmermeister absolviert. Für viele von ihnen zählte der Bau von Wohnhäusern sowie Nutzgebäuden zum Tagesgeschäft. Ihre soliden praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten übertrugen sie ganz selbstverständlich auf die Anforderungen der Fabriken, die damit die Gestalt von Gutsanlagen, aber auch von spätbarocken Bürger- und Rathäusern, ja sogar von Palais und kleinen Schlössern annahmen. Dies gilt insbesondere für die Wohnbauten, die in der Regel im Gegensatz zur zweckbetonten Nüchternheit der Produktionsgebäude standen. Neben ihrem eigentlichen Zweck erfüllten sie oftmals auch die Funktion für Verwaltung (Kontor) und als Lager für Roh- und Fertigprodukte. Mit seinem Wohn- und Verwaltungssitz verband der Fabrikherr, wenn möglich, repräsentative Absichten, sodass dem Gebäude die Funktion einer in Stein übertragenen »Visitenkarte« zukam. Auch dies ist als Fortsetzung längst etablierter Gewohnheiten anzusehen, wenn man sich etwa die erzgebirgischen Hammerherrenhäuser oder die Wohngebäude der Rittergüter im Leipziger Land vor Augen führt. Programmatisch kommt beim anspruchsvollsten Beispiel in Burgstädt (1763) die selbstbezogene Sichtweise des Fabrikherrn zum Ausdruck: Sein Anwesen, in dem produziert, verwaltet, gelagert, gehandelt und gewohnt wurde, ist nicht mehr und nicht weniger als die Übertragung eines Palais auf die Bedürfnisse eines klug agierenden Geschäftsmanns. Dass er sein Haus auf eine Stufe mit denjenigen des Adels stellt und sich darin eine Konkurrenzsituation manifestiert, ist ein charakteristischer Zug für die Industriearchitektur dieser Zeit. Die innerhalb einer Kattunfabrik vereinigten Gebäude konnten auf unterschiedliche Weise miteinander kombiniert werden. In den weitgehend geschlossenen Parzellen der Städte war die Form eines vierflügeligen Baukörpers, der um einen (längs-)rechteckigen Hof gruppiert war, konstitutiv. Die wesentlichen Akzente setzten das an der Straßenseite situierte Wohnhaus sowie die im hinteren Hofbereich angeordnete Druckerei, beides verbunden durch schmale Seitenflügel. Eine variierende Anordnung war bei denjenigen Anlagen möglich, deren Grundstücke außerhalb der Städte lagen und einen größeren Entfaltungsspielraum boten. Freilich bleibt auch in solchen Fällen das Prinzip des zentralen Hofes, den mehr oder weniger locker einander zugeordnete Einzelgebäude umgaben, vorherrschend. Gelegentlich entstanden dabei auch Anlagen, deren Gebäude völlig irregulär angeordnet waren, was auf die Einbeziehung vorhandener Bausubstanz mit vormals anderer Zweckbestimmung schließen lässt oder der Rücksichtnahme auf die Baugrundverhältnisse geschuldet war. Schließlich ergab sich in einigen Fällen wie z.B. in Göritzhain (J. F. Wagner) oder Plauen (Facilides & Co.) die Möglichkeit, die wesentlichen Arbeitsvorgänge unter einem gemeinsamen Dach zu bündeln, was eine kompakte Baumasse von erheblichem Volumen zur Folge hatte. Mit zunehmender Anzahl der Betriebe und der Größe der zugehörigen Gebäude gewannen diese immer stärkeren Einfluss auf die Orts- und Stadtbilder. In Chemnitz 2 Die Chemnitzer Aue unterhalb des Hüttenbergs mit den Kattundruckereien Pfaff & Söhne (links) und C. G. Becker (rechts), ganz links die Beckersche Baumwollspinnerei, Lithographie von Heinrich Gottlob Kästner, Kat. IX.5
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