Leseprobe

112 vollendete, nördlich der alten Mühle errichtete Neubau überhaupt für den vorgesehenen Zweck benutzt wurde, ist jedoch unklar. Der Bauherr starb im Jahr der Fertigstellung, und in den Untersuchungen zum sächsischen Manufakturwesen von Rudolf Forberger und Siegfried Kreß ist der Standort Göritzhain nicht bekannt. Damit bieten sich interessante Ansätze für künftige Forschungen. Der gutsähnliche Gebäudekomplex – das »große Haus« genannt – dominiert bis heute das ländlich geprägte Ortsbild (Abb. 5). Das Hauptgebäude erhebt sich über rechteckigem Grundriss in zwei Vollgeschossen sowie einem Mezzanin. Den Abschluss bildet ein ziegelgedecktes Mansarddach mit Gauben sowie Lukarnen. Es wird durch einen zentral angeordneten Dachreiter mit offener Laterne und Spitzhelm akzentuiert. Die verputzten Fassaden sind heute vollkommen schlicht gehalten, verfügten ursprünglich jedoch sicherlich über eine differenzierende Putzgliederung und eine entsprechende Farbigkeit, die für ein festliches Gesamtbild sorgten. Die dem Chemnitztal zugewandte Schauseite verfügt über zwölf Achsen, die durch rechteckige, im Mezzanin stichbogenförmig geschlossene Fenster mit kräftigen Gewänden in Rochlitzer Porphyrtuff markiert werden. In gleicher Weise ist auch der asymmetrisch angeordnete Haupteingang ausgezeichnet. Dem Hauptgebäude sind – ähnlich wie in Burgstädt – auf der Rückseite zwei Flügelbauten angeschlossen, die einen schmalen Hof umfassen. Hier dürften in erster Linie Produktionseinrichtungen vorgesehen gewesen sein. Die Erdgeschosse sind massiv; die Obergeschosse dagegen in Fachwerk ausgeführt und werden durch einfache Krüppelwalmdächer abgeschlossen. Die innere Struktur des Hauptgebäudes lässt trotz zahlreicher Veränderungen seinen ursprünglichen Charakter als Lager-, Fabrik- und Wohnhaus deutlich erkennen. Das Erdgeschoss verfügt neben einem großzügigen Flur mit Deckenstuck auch über gewölbte Räume für Roh- und Fertigwaren. Im ersten Obergeschoss finden sich sowohl Säle mit einfachen Holzbalkendecken, in denen man sich gut die Druckerei vorstellen könnte, als auch solche mit qualitätvollen Stuckaturen, die gehobenen Wohnansprüchen genügen (Abb. 6). Mezzanin und Dachboden könnten als Wohnräume für Angestellte bzw. für das Trocknen der Stoffe gedacht gewesen sein. Diese Kombination von Arbeits- und Wohnbereich nicht nur der »Herrschaft«, sondern auch des Personals unter einem Dach ist charakteristisch für die Zeit, wie weiter unten am Beispiel von Facilides & Co. in Plauen näher ausgeführt wird. Die Göritzhainer Kattundruckerei hat ihr unmittelbares Vorbild im Herrenhaus des Ritterguts in Tanneberg bei Wilsdruff (Abb. 7).17 Der bereits 1744 im Auftrag von Adolf Ferdinand von Schönberg errichtete kompakte Barockbau unter einem Mansarddach weist eine nahezu identische Fassadenstruktur auf. Die stilistischen Parallelen lassen entweder auf ein und denselben, bislang unbekannten Baumeister oder doch zumindest auf die unmittelbare Wirksamkeit des um 20 Jahre älteren Tanneberger Herrenhauses auf Wagners Fabrikbau schließen. Darüber hinaus ist auf Beispiele aus der Militärarchitektur hinzuweisen, wie etwa das Proviantmagazin in Torgau, errichtet 1727/28 nach Plänen von Rudolf Fäsch (1680–1749).18 Die Vorbildwirkung derartiger Nutzbauten für die frühe Industriearchitektur hat bereits Andreas Oehlke herausgearbeitet.19 Diese Feststellung lässt sich auch auf die ein Vierteljahrhundert ältere Kattundruckerei in Göritzhain übertragen. Der hochragende, turmgekrönte Baukörper antizipiert einen Typus, der erst ein reichliches Vierteljahrhundert später mit den Spinnmühlenbauten Johann Traugott Lohses und Christian Friedrich Uhligs seine volle Ausprägung erfährt und noch bis in die 1860er Jahre zum Standardprogramm für Bauten der Textilindustrie zählte. Zudem liefert Göritzhain eines der frühesten belegbaren Beispiele für die Anwendung eines zentral angeordneten Dachreiters im Kontext eines sächsischen Fabrikgebäudes.20 Im Jahr 1771 richtete Johann Gottlob Pflugbeil in Chemnitz eine »Cotton-Druckerey« mit angeschlossenem Verlag von Webern ein.21 Der Sitz befand sich zunächst in einem Haus auf der Äußeren Klostergasse, das für den neuen Nutzungszweck entsprechend erweitert wurde. 5 Göritzhain, Kattundruckerei von J. F. Wagner, Gesamtansicht 6 Göritzhain, Kattundruckerei von J. F. Wagner, Stuckdecke im 1. Obergeschoss

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