Leseprobe

164 stuhl zu leistenden Strumpfwirkerei fanden viele verarmte Bergarbeiterfamilien ein dringend benötigtes Auskommen. Die Strumpfwirker im Erzgebirge und in der Stadt Chemnitz produzierten schwerpunktmäßig für Verleger – Unternehmer, die den Arbeitslohn, Rohstoffe und Produktionsinstrumente wie Wirk- oder Kulierstühle vorfinanzierten, sich exklusiv die hergestellten Produkte sicherten und mit großem Gewinn schließlich in den Handel brachten. Verschiedene Neuerungen in der Produktionstechnik wie etwa die Entwicklung eines verbesserten Wirkstuhls durch Johann Esche in Limbach (um 1710) bescherten dem Handwerk einen enormen Auftrieb, ebenso wie etwa die von Prinz Xaver verfügte Einführung spanischer EscorialSchafe nach Sachsen im Zuge des Rétablissements, in deren Folge sich die Qualität der zu verarbeitenden Wolle verbessern ließ. Die Arbeit in dezentralisierten Manufakturen spielte zwar noch lange eine Rolle. Durch die Konzentration von Arbeitskräften und Finanzkapital sowie den Einsatz maschineller Produktionsinstrumente aber eröffneten die genannten Entwicklungen dem auf hochwertige und marktgängige Produkte spezialisierten Strumpfwirkergewerbe den Weg in den Industriekapitalismus – und damit in eine Epoche, in der Chemnitz zum europäischen Zentrum der Strumpfherstellung aufstieg. Am Ende des 19. Jahrhunderts lag die Tagesleistung bei 600 000 Stück – vorrangig Damenstrümpfe! UF Literatur: Objekte bislang unpubliziert. V.6 Feinbohrmaschine Mittelsachsen, Chemnitz (?), Ende 18. Jahrhundert Holz, farbig gefasst, Eisen, H 129 cm Kunstsammlungen Chemnitz – Schloßbergmuseum, Inv.-Nr. cm012248 Die Bohrmaschine wurde wahrscheinlich ausgangs des 18. Jahrhunderts als Spezialwerkzeug für die Herstellung von neuen Produktionsinstrumenten in der entstehenden Textilindustrie, etwa zur Fertigung von Strumpfwirkerstühlen, gebaut. Ihre Konstruktion ließ präzise und tiefe Bohrungen in großer Zahl, jedoch nur mit geringem Bohrdurchmesser zu – Eigenschaften, wie man sie gleichfalls beim Bohren von Nadelbetten für die seit 1770 eingeführte eiserne Mechanik im Wirkstuhlbau benötigte. Die äußerst genaue, sehr modern anmutende Vorrichtung zum Einspannen der Werkstücke sowie die außergewöhnliche Bohrspindelzustellung tragen diesem sehr speziellen Verwendungszweck Rechnung. Die Ausführung des Maschinenrahmens, die noch deutlich barocken Elemente des Gestells, lassen eine Datierung in die letzten zwei, drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts zu. Auch die durchaus vorhandenen konstruktiven Mängel und Einschränkungen, die wohl auf das Fehlen geeigneter Vorbilder zurückzuführen sein dürften und den sehr frühen Entstehungszeitpunkt der Maschine betonen, legen den Schluss nahe, dass es sich bei diesem Bohrmaschinenmodell um einen Prototyp handeln könnte. Die aktuelle technikgeschichtliche Forschung hält die Chemnitzer Bohrmaschine für einen bedeutenden Sachzeugen aus der Vorgeschichte des Werkzeugmaschinenbaus bzw. der Frühgeschichte der sächsischen Maschinenbauunternehmen. UF S. 15 Literatur: Fiedler; Nicklas; Thoß 2009. VI Baumwolle – Rohstoff der Industrialisierung Im Februar 1764, ein Jahr nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, tauchten vier ausländische Kaufleute auf dem Chemnitzer Marktplatz auf. Es waren »Mazedonier«, die 40 Ballen Baumwolle zum Verkauf mitführten und das Angebot unterbreiteten, den Rohstoff dauerhaft und preiswerter als andere Anbieter für die Chemnitzer textilen Gewerbe zu liefern. Wirtschaft und Administration in Chemnitz erkannten und ergriffen diese Chance: Die Stadt gelangte mit der Ansiedlung von 30 Händlern aus dem Osmanischen Reich in eine landesweite Ausnahmestellung und konnte sich damit als Baumwollzentrum etablieren – Spinnerei, Weberei, textilveredelnde Gewerbe wurden nachhaltig in ihrer Entwicklung gefördert. Der Schritt der »Mechanisierung«, des Einsatzes großer, zentral angetriebener Maschinen in den Fabriken, vollzog sich in Chemnitz mit den Baumwollspinnereien Bernhardt sowie Wöhler & Lange in den Jahren um 1800. Alle historischen Quellen jener Jahre belegen nachdrücklich, dass ohne das stark entwickelte Baumwollgewerbe, insbesondere die florierenden »Cattun-Fabriquen«, diese Betriebe niemals entstanden wären. Die Anfänge der Industrie in Chemnitz sind daher in der Kattundruckerei zu suchen, die Grundlage bildete wie im englischen Manchester der Rohstoff Baumwolle.

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