Leseprobe

11 Fragen nach Ursachen und Genese einer besonders ausgeprägten wirtschaftlichen Entwicklung bestimmter europäischer Regionen gehören seit langem zum Kanon wirtschaftshistorischer Untersuchungen. Neben anderen wurden und werden hier auch Fragen nach den Wurzeln, Vorläufern, Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für einen teils nur zeitlich begrenzten wirtschaftlichen Aufstieg bestimmter Regionen diskutiert. Wie in anderen Disziplinen der Geschichtswissenschaften auch scheinen hier in Bezug auf den Prozess des Übergangs von einer zünftig zur (früh-)industriell geprägten Wirtschaft viele Fragen offen und nur wenige befriedigend geklärt, wie etwa der Umstand, dass Großbritannien als Mutterland der unter dem Begriff »industrielle Revolution« gefassten Entwicklungen zu verstehen ist.1 Hier bildet jedoch der regionale bzw. der lokale Bezugsrahmen im Hinblick auf die Genese der Chemnitzer Gewerbegeschichte den Vordergrund. Einen solchen Perspektivenwandel von der gesamtstaatlichen Ebene hin zu regionalen Bezüglichkeiten hat in den zurückliegenden Jahren auch die Wirtschaftsgeschichte vollzogen. Im Folgenden sollen zwei Aspekte überblicksartig betrachtet werden: Erstens, welche Probleme stellen sich bei der Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung in der europäischen Neuzeit, und wie wurden bzw. werden sie von Wirtschaftshistorikern diskutiert? Daneben soll der Frage nachgegangen werden, wie die wirtschaftliche Entwicklung des Kurfürstentums bzw. Königreichs Sachsen vom ausgehenden 18. bis ins 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund innen- wie außenpolitischer Weichenstellungen einzuordnen ist. Theorien und Modelle Als ein »Industrialisierungs-Modell« von besonderer Bedeutung erwies sich über viele Jahre hinweg die Rostowsche Stadien- bzw. Stufentheorie. Der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker und Präsidentenberater Walt Whitman Rostow (1916–2003) prägte in seinem 1959 erstmals in Aufsatzform veröffentlichen Werk The Stages of Economic Growth2 die Vorstellung, dass es in der Geschichte des Kapitalismus fünf Phasen gäbe: die traditionale Gesellschaft, die Gesellschaft im Übergang, das Stadium des wirtschaftlichen Aufstiegs (take off), die Reifephase sowie das Zeitalter des Massenkonsums. Für Wirtschaftshistoriker waren dabei insbesondere die Phasen 2 und 3 interessant. Phase 2 wird definiert als »Übergangsgesellschaft, in der die Voraussetzungen für das Wirtschaftswachstum durch Verhaltensänderungen, bes. durch ansteigende Investitionstätigkeit gelegt werden«. Phase 3, der Take-off, definiert sich folgendermaßen: »Bei einer Mindestinvestitionsquote von 10 Prozent, einer Entwicklung einiger führender Wirtschaftsbranchen mit hohem Wachstum und hinreichend entwickeltem politischem, sozialem und institutionellem Rahmen, als Voraussetzungen für dynamisches Unternehmertum, kommt es zu schnellem wirtschaftlichem Wachstum, über viele Jahre hinweg.«3 In dem Modell wird einerseits auf ein dauerhaft erhöhtes Investitionsgeschehen, andererseits auf die Existenz von »führenden Wirtschaftsbranchen« als die Basis für nachhaltiges Wachstum sowie zum Dritten auf einen »hinreichend entwickelten politischen, sozialen und institutionellen Rahmen« als Voraussetzungen verwiesen. In der Praxis erweist es sich jedoch aufgrund fehlender Quellen häufig als schwierig, das »dauerhaft erhöhte Investitionsgeschehen« nachzuweisen. Als »führende Wirtschaftsbranchen« machte Rostow den Bergbau und die Eisen- und Stahlproduktion, die Baumwoll-Maschinenspinnerei und allgemein den Maschinenbau aus, verbunden mit Rückkopplungseffekten auf andere Wirtschaftssektoren. Eine so strukturierte Entwicklung hat es jedoch, abgesehen von Großbritannien, kaum gegeben. In Sachsen existierte eine Roheisen- und Stahlerzeugung in nennenswerter Größe nicht, wohl aber eine Vielzahl an Textilien produzierender Unternehmen, die über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg zum bedeutendsten Industriezweig Sachsens wurden. Auch die nach Rostow anzumessenden Rahmenbedingungen stellen sich als problematisch dar. Hatten die sächsischen Reformen von 1831 einen unmittelbaren Einfluss auf den Industrialisierungsprozess, wie etwa Hubert Kiesewetter betonte? Und welche Rolle spielt der Umstand, dass in Sachsen die Zunftverfassung erst zu Beginn des Jahres 1862 abgeschafft wurde – mehr als ein halbes Jahrhundert später als etwa im benachbarten Preußen? Überhaupt ist hier die Stellung des »Staates« als nicht allein (wirtschafts-)politischer Akteur, sondern per se als Ordnungsrahmen zu hinterfragen. Nimmt man nämlich die Entwicklungsgeschichte der kontinentalen wirtschaftlichen Führungsregionen in den Blick, so fällt auf, dass sich ein bedeutender Teil dieser Regionen entlang des Rheins gruppiert – angefangen vom Rhein-MaasDelta (Niederlande und Belgien) bis in die Schweiz. Ein anderer Raum wurde durch Sachsen, Schlesien, Böhmen und Mähren gebildet.4 Verband nicht vielleicht den grenzüberschreitenden Wirtschaftsraum Erzgebirge in unserem Betrachtungszeitraum mehr miteinander als etwa das sächsische Erzgebirge mit der Lausitz, die wiederum eher mit Schlesien verbunden war? Folgte nicht die Entwicklung des sächsischen Vogtlands zur führenden Region der Maschinenstickerei und Spitzenproduktion ganz anderen Gesetzen bzw. war von anderen Abhängigkeiten geprägt als die des Erzgebirges, dessen Wirtschaftskraft ursächlich vom Bergbau bestimmt wurde, oder die der Stadt Leipzig mit Messe, Rauchwaren und Buchgewerbe? Neben Walt W. Rostow wurde die ältere Forschung maßgeblich durch das gleichfalls in den 1950er Jahren von Alexander Gerschenkron (1904–1978) entwickelte Modell von Pionier- und Nachzüglernationen beeinflusst. Der in den USA lehrende Wirtschaftswissenschaftler vertrat die Auffassung, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Grad der grundständig vorhandenen Wirtschaftsstruktur eines Landes und dem Zeitpunkt sowie der Geschwindigkeit des in der Folge sich vollziehenden Industrialisierungsprozesses gebe.5 Zudem sei die so entstehende Wirtschaftsstruktur vornehmlich von Großunternehmen geprägt, und der Staat spiele eine herausragende Rolle als Akteur auf dem Feld der Wirtschaftspolitik.

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