12 Seit den 1970er Jahren setzten sich Wirtschaftshistoriker intensiv mit der Frage auseinander, ob in bestimmten europäischen Regionen in der Frühen Neuzeit eine »Industrialisierung vor der Industrialisierung« stattgefunden habe. Auslöser war ein Beitrag des US-Forschers Franklin F. Mendels (1943–1988), der sich 1972 im renommierten »Journal of Economic History« mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Flandern im 18. Jahrhundert auseinandergesetzt hatte.6 Nach Mendels entstanden protoindustrielle7 Strukturen in ländlichen Räumen mit saisonaler Arbeitslosigkeit, hoher Bevölkerungsdichte und einer schlechten Qualität des Ackerbodens. Der hieraus resultierende Druck auf große Teile der Bevölkerung, sich zusätzliche Erwerbsquellen zu suchen, habe zur Entstehung eines großen Arbeitskräftereservoirs geführt. Zeitgleich sei aufgrund der europäischen Expansion ein »Weltmarkt« mit einer Nachfrage nach gewerblichen Produkten entstanden, den das auf den lokalen Markt ausgerichtete städtische Zunftwesen nicht habe befriedigen können. In Fortschreibung dieses Modells betonten Wissenschaftler, wie der Münsteraner Wirtschaftshistoriker Ulrich Pfister, dass dieses Modell in dem Moment an seine Grenzen gestoßen sei, in dem die räumliche Verbreitung/Ausdehnung der Unternehmen für die Unternehmer sich mit immer höheren Kosten verbunden und damit zum Absinken der Rentabilität geführt habe. Ein Ausweg bestand für Unternehmer darin, Teile der Produktion a) zu zentralisieren und b) zu mechanisieren. Damit stand der Weg zur branchenspezifischen Industrialisierung offen.8 Zwei weitere Aspekte der aktuellen Forschung sollen noch angesprochen werden. Neben den bereits genannten Faktoren scheint nicht zuletzt auch die Sichtweise/das Handeln der Unternehmer von Belang, auch im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Generationen. Der Chemnitzer Wirtschaftshistoriker Rudolf Boch hat in diesem Zusammenhang in seiner bereits 1991 erschienenen Arbeit zur Industrialisierungsdebatte im rheinischen Wirtschaftsbürgertum darauf hingewiesen,dass im Zeitraum nach 1815,d.h.nach dem Ende der Ära Napoleon Bonapartes, die jüngere Unternehmergeneration zum einen auf eine beschleunigte Industrialisierung gesetzt, zum anderen für die Einrichtung eines mit Importzöllen gesicherten Binnenwirtschaftsraums plädiert habe, während die ältere Generation vergeblich versuchte, unter unveränderten Bedingungen erneut auf dem Weltmarkt Fuß zu fassen.9 Ähnliches lässt sich auch in anderen Regionen Deutschlands feststellen. Der Wirtschaftshistoriker Michael Schäfer, dem wir eine 2016 erschienene beachtenswerte Studie zum sächsischen Textilexportgewerbe im Zeitraum von 1790 bis 1890 verdanken, fasst es so zusammen: »Erfolg und Scheitern des Industrialisierungsprozesses wird in allen diesen Studien letztlich am möglichst zeitigen Nachvollzug technologisch-betriebsorganisatorischer Entwicklungen festgemacht.«10 Offensichtlich ist schon in jener Zeit auch auf diesem Feld ein uns heutzutage allseits bekanntes Phänomen ablesbar: Eine jüngere Generation steht technischen Innovationen offener gegenüber und sucht sich die aus diesen resultierenden Vorteile nutzbar zu machen – auch unternehmerisch. Dabei geriet das »integrierte Unternehmen« in den Blick, »in dem Produktion und Vertrieb in eigener Regie organisiert werden«, und zwar unabhängig davon, ob im Rahmen der Produktion Maschinen zum Einsatz gelangten oder nicht.11 Ein personengeschichtlich-biografischer Bezugsrahmen ermöglicht darüber hinaus Zugang zur Gedankenwelt, zum Wirken, aber auch zu Netzwerken (etwa in die Politik) unternehmerisch agierender Persönlichkeiten.12 Vor einigen Jahren hat nun der Marburger Wirtschaftshistoriker Christian Kleinschmidt in einem Beitrag für die »Zeitschrift für Unternehmensgeschichte« den Blick über den Tellerrand des Produzenten hinaus auf die Absatzmärkte und deren spezifische Entwicklung gerichtet. Dabei gerät naturgemäß das Phänomen der Globalisierung in den Blick, die – wenigstens aus Historikerperspektive – aufgrund der europäischen Expansion in der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert einsetzte und sich seither in mehreren Schüben vollzog. Bemerkenswert ist hier insbesondere die qualitative wie quantitative Verstärkung der transatlantischen Handelsbeziehungen zwischen Europa (und hier insbesondere Großbritannien und Frankreich) und Nordamerika seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Intensivierung und Extensivierung der Plantagenwirtschaft dort trug dem in Europa gestiegenen Bedarf an Roh- bzw. Grundstoffen Rechnung. Vice versa fanden europäische Unternehmer in Nordamerika Absatzmärkte für ihre Fertigprodukte.13 Aspekte der frühen Industrialisierung in Sachsen Das sächsische Kurfürstentum war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ganz besonderer Weise betroffen von den dramatischen Entwicklungen des Konzerts der europäischen Mächte wie vom preußisch-österreichischen Konflikt, der sich durch die gewaltsame Inbesitznahme Schlesiens durch Friedrich den Großen (1712–1786) im Jahr 1740 entzündet hatte. Die mit Unterbrechungen bis 1763 geführte kriegerische Auseinandersetzung zog nicht nur die Auflösung der sächsisch-polnischen Union nach sich, sondern auch mannigfaltige kriegsbedingte Zerstörungen und die völlige ökonomische Zerrüttung Sachsens. Die vom sächsischen Thronfolger Kurprinz Friedrich Christian (1722– 1763) noch vor Kriegsende im Jahr 1762 forcierte Bildung und Einsetzung einer Restaurationskommission erwies sich als erster wichtiger Schritt in eine neue Zeit nach dem völligen Bankrott der vom bis dahin allmächtigen Premierminister Graf Heinrich von Brühl (1700– 1763) zu verantwortenden sächsischen bzw. sächsischpolnischen Innen- wie Außenpolitik.14 Im Rahmen des kursächsischen Rétablissements wurden in der Zeit der Regentschaft des Prinzen Xaver (1730–1806),15 der von 1763 bis 1768 als Vormund für seinen minderjährigen Neffen Friedrich August fungierte, prinzipiell bereits vorhandene, aber während der Ära Brühl außer Kraft gesetzte Strukturen wiederlebt. Dazu zählten neben dem kurfürstlichen Generalakzisekollegium auch die Amts- und Kreishauptmannschaften als regionale bzw. lokale
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1