Leseprobe

Depressio� »Spleen und Ideal« ist der erste und größte Abschnitt der Fleurs du Mal überschrieben. In der Ausgabe von 1861 umfasst er 85 von insgesamt 126 Gedichten. In antithetischer Konstellation zum Ideal – die Opposition der beiden Begriffe bildet gewissermaßen das Grundgerüst des gesamten Bandes – entfaltet der »Spleen« ein ganzes Spektrum von Bedeutungsnuancen. Im Französischen gern mit ennui (Langeweile) in Verbindung gebracht, lässt spleen sich auch als Melancholie oder Schwermut übersetzen, als Niedergeschlagenheit, Verdruss oder Ärger bis hin zur tiefen Trostlosigkeit und Depression. Der Baudelaire’sche »Spleen« ist die Verzweiflung an einer Welt, die dem Ideal von Schönheit, Gerechtigkeit und Harmonie nicht entsprechen kann – eine Depression, der der schöpferische Funke aber (oder gerade deswegen) noch nicht abhanden gekommen ist. Angesichts einer durchrationalisierten und durchkapitalisierten Welt (ein Topos, der sich schon bei Edgar Allan Poe findet, den Baudelaire mit seinen Übersetzungen berühmt gemacht hat) ist es gerade das Wachstum der »Blüten des Bösen«, das neue Hoffnung verleiht. Die von Ulf Soltau gesammelten Gärten des Grauens sind Zeugnisse einer nun schon seit Jahren um sich greifenden Mode, Vorgärten in Steinwüsten zu verwandeln. Sonderbarerweise scheint gerade die Nähe zur Natur – die meisten dieser Vorgärten sind in ländlichen Gegenden zu finden – den Wunsch nach einem gefängnisähnlichen Milieu zu wecken. In diesen kunst- und poesiefernen, von Ordnungszwang dominierten Arealen scheint nicht allein die Arbeit, sondern jegliches Tun zum Tode verurteilt. Welch deprimierende Aussicht – wenn nicht auch hier bisweilen die »Blüten des Bösen« austreiben würden, etwa in der Gestalt einer riesenhaften Phallus-Konifere, flankiert von hodenartigen Gebüschen, die in einer überraschend ironischen Wende dem gesamten lebensfeindlichen Projekt hohnspricht. | KyZ

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