Leseprobe

95 »Der Weg des Lebens sollte mit Blüten bestreut sein!« Für den Spaziergänger in Honoré Daumiers Lithographie ist das Motto mit einer schmerzhaften Erkenntnis verbunden, wobei ihm nicht Blumen, sondern deren Töpfe zum Verhängnis werden. Mit voller Wucht hat eines der Gefäße seinen Zylinder getroffen und ihm die Krempe bis auf die Nasenspitze hinuntergedrückt. Wie der Blumentopf zielt die 1840 in Le Charivari veröffentlichte Karikatur auf den Typus des Biedermannes.1 Blumen, in Töpfen, Beeten oder Sträußen, tauchen in zahlreichen Darstellungen Daumiers als Inbegriff des Spießbürgertums auf. Besonders heimtückisch kommt eine Szene aus den Bons Bourgeois daher, die 1846 ebenfalls in der Zeitschrift abgedruckt wurde. Sie zeigt einen älteren Mann mit Schlafmütze beim Gießen seines opulenten Fenstergartens. Parallel dazu führen uns seine innig an einer Blume riechende Frau und der Kommentar »Ein Musterhaushalt, seit dreißig Jahren pflegen sie die Tugend und die Levkojen!« vor Augen, dass die Blütenpracht hier einzig auf der verlorengegangenen Intimität des Paares gründet.2 Nicht latent, sondern ausgesprochen konkret manifestiert sich die Sexualität im selben Zeitraum in den Gedichten Charles Baudelaires.3 1857 erschien die erste Ausgabe der Fleurs du Mal und versetzte die Bourgeoisie mit ihrem Bouquet an gefühlten Tabubrüchen, Zumutungen und Verwerfungen in Aufruhr. Auf eine empörte Kritik folgten die Verurteilung des Autors wegen »Beleidigung der öffentlichen Moral« und das Verbot von sechs der enthaltenen Gedichte.4 Ein Blick darauf macht deutlich, an welchen Themen sich die Sittenwächter störten, stechen diese Gedichte doch sämtlich durch explizite Schilderungen der Sexualität hervor. fassten Karikaturen sich die beobachtete Realität mit der Imagination verbinde. Siehe Charles Baudelaire: Curiosités esthétiques. Paris 1868, S. 397–402; Claire Moran: Baudelaire, Daumier, and the Reinvention of History Painting. In: Dix-Neuf. Journal of the Society of Dix-Neuviémistes, 16,1 (2012), S. 49–61. 4 Die gegen Baudelaire verhängte Geldbuße von 300 Francs wurde später auf 50 Francs gesenkt. Zum Vergleich: Für seine Karikatur Gargantua war Daumier 1833 noch zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe und zur Zahlung einer Summe von 500 Francs verurteilt worden. HONORÉ DAUMIER Der Weg des Lebens sollte mit Blüten bestreut sein! In: Le Charivari, 2. Februar 1840 Yale University Art Gallery, New Haven HONORÉ DAUMIER Ein Musterhaushalt, seit dreißig Jahren pflegen sie die Tugend und die Levkojen! In: Le Charivari, 10. Juli 1846 Musée Carnavalet, Paris 1 Man denke in diesem Zusammenhang auch an die äquivalente Funktion des Motivs bei Carl Spitzweg. 2 Wobei »giroflée« mehrdeutig ist und neben Levkojen auch die spurenhinterlassende Ohrfeige bezeichnen kann. Siehe z.B. www.cnrtl.fr/definition/­ giroflée (11. Oktober 2024). 3 Baudelaires Wertschätzung für den Künstler äußerte sich nicht nur im 1866 veröffentlichten Epigraph Vers pour le portrait de M. Honoré Daumier, er bezeichnete Daumier auch als einen der wichtigsten Vertreter der zeitgenössischen Kunst, in dessen als moderne Historien aufge-

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