96 Der Baum der phallischen Erkenntnis Wenig überraschend ging gerade von den inkriminierten Inhalten ein besonderer Reiz aus, was sich mit einiger Verzögerung auch in bildkünstlerischen Verarbeitungen niederschlug. Für die erste im Zusammenhang mit den Gedichten Baudelaires veröffentlichte Darstellung gilt dies nur bedingt. 1866 erschien in Belgien der kleine Band Les Épaves, der neben 17 neuen auch die in Frankreich verbotenen Gedichte enthielt. Das von Félicien Rops angefertigte Frontispiz (Abb. S. 17) basiert auf einer Idee Baudelaires,5 der in einer zeitgenössischen Abhandlung über Totentänze auf eine Darstellung von Adam und Eva unter einem Skelettbaum gestoßen war.6 Die vielfach rezipierte Darstellung geht auf einen 1543 entstandenen Kupferstich Sebald Behams zurück, in dem der Tod die drohenden Konsequenzen des Sündenfalls mit wissendem Blick auf Evas Körper kommentiert.7 Allerdings war Baudelaire weder an der Vanitassymbolik noch an der frontalen Präsentation des nackten Stammelternpaares interessiert, sondern schlicht am Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, der ihm als idealer Vorspann einer Neuauflage der Fleurs du Mal vorschwebte.8 In Rops’ Radierung umwuchern die sieben Todsünden in Gestalt »böser« Pflanzen den Stamm des Baumes, wie in einem botanischen Garten sorgfältig beschriftet. Ein skelettierter Pegasus, ein Medaillon mit Straußenemblem und eine Chimäre mit dem Konterfei Baudelaires ergänzen die Komposition, deren vermeintliche Komplexität den Herausgeber zur Beigabe eines erläuternden Textes veranlasste.9 Eine geschlechtliche Konnotation erlaubt so nur die Schlange, die im Frontispiz nicht mehr, wie noch in der finalen Vorzeichnung, als Überbringerin des Apfels, sondern als ausschließlich phallische Anspielung vor dem Unterleib des Skeletts fungiert – Hélène Védrine zufolge ein deutlicher Verstoß gegen das theologische Konzept Baudelaires.10 Abgesehen vom Frontispiz der Épaves ließen illustrierte Ausgaben der Fleurs du Mal lange auf sich warten; auch weitere Gestaltungsideen für die Werke Baudelaires wurden aufgrund seines frühen Todes nicht mehr realisiert. So vergingen drei Jahrzehnte, bevor sich ab 1896 mit Armand Rassenfosse und Carlos Schwabe gleich zwei Illustratoren des Buchs annahmen, wobei insbesondere die Darstellungen der von Schwabe gestalteten, 1900 bei Meunier erschienenen Ausgabe eine auch in der zeitgenössischen Malerei auszumachende Tendenz erkennen lassen, frönen sie doch weitaus stärker dem Eros als dem Verfall.11 5 Nachdem Félix Bracquemond an der Umsetzung der Idee gescheitert war, zeichnete Rops für die finale Version verantwortlich. Siehe Claire Chagniot: L’image dans le livre: Meryon – Baudelaire – Bracquemond. In: Baudelaire, Due secoli di creazione / Baudelaire, Deux siècles de création. A cura di Ida Merello e Andrea Schellino. Genua 2021, S. 23–44, hier S. 37–41. 6 Eustache-Hyacinthe Langlois: Essai historique, philosophique et pittoresque sur les Danses des morts. Rouen: Lebrument, 1851, Tome II, Pl. VII. 7 Siehe Ellen Holtzman: Félicien Rops and Baudelaire: Evolution of a Frontispiece. In: Art Journal (London/ New York) 38,2 (1978), S. 102–106. 8 Siehe Hélène Védrine: Allégorisme fin-de-siècle. Les Fleurs du Mal illustrées par Armand Rassenfosse et Carlos Schwabe. In: Baudelaire, Due secoli (wie Anm. 5), S. 86–110, hier S. 88. 9 Rops bediente sich für sein Bildprogramm unter anderem bei der Iconologia Cesare Ripas, deren Motive er ins Negative verkehrt. Ebd., S. 90. 10 Für Baudelaire stand der Baum mit seinen kreuzförmig ausgebreiteten Armen im Fokus. Siehe Védrine, Allégorisme (wie Anm. 8), S. 89 f. 11 Es handelte sich in beiden Fällen um eine Luxusausgabe für einen ausgewählten Kreis. Die früher, unabhängig von Buchausgaben entstandenen Serien Odilon Redons und Auguste Rodins verfolgen eine abweichende Konzeption. Siehe Ida Merello: Les Fleurs du Mal di Odilon Redon. In: Baudelaire, Due secoli (wie Anm. 5), S. 45–67; Julien Zanetta: Rodin, Baudelaire: l’Enfer et les Fleurs. Ebd., S. 68–85. 12 Siehe hierzu den Aufsatz von Benjamin Loy im vorliegenden Katalog. 13 Siehe Ian Millman: Georges de Feure. Maître du Symbolisme et de l’Art nouveau. Paris-Courbevoie 1992, S. 36. 14 Ein erstes, mit Fleurs du Mal bezeichnetes Gemälde, das 1893 im Salon de la Rose+Croix ausgestellt war, lässt sich heute nicht mehr identifizieren. Der zwischen 1892 und 1897 bestehende, von dem Rosenkreuzer Joséphin Péladan ins Leben gerufene Salon bot zahlreichen Symbolisten ein Forum. Siehe Millman (wie Anm. 13), S. 40. 15 Die Andeutung findet im Handgestus der Hauptfigur eine Wiederholung. Fleurs du Mal, überall Wie sich an den »bösen« Blüten ausgewählter Werke zeigen lässt, erstreckte sich die von Walter Benjamin konstatierte europäische Wirkung der Fleurs du Mal auch auf die Bildkunst,12 mit einem erkennbaren Schwerpunkt – und einiger Verzögerung. Eingeleitet wurde die Wiederentdeckung des Werks 1886 vom griechischen Dichter Jean Moréas, der Baudelaire in seinem symbolistischen Manifest als Vorläufer der Bewegung pries. In der Folge beriefen sich zahlreiche Künstler auf Baudelaires Gedichte. Den sprachlichen Allegorien begegneten die Symbolisten dabei mit visuellen Verrätselungen ganz eigener Art, gemäß der Maxime, dass ein Kunstwerk seine Geheimnisse erst nach ausführlicher Betrachtung preisgeben, aber selbst dann seine Mehrdeutigkeit nicht verlieren dürfe.13 Kein Maler des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat sich indes ausgiebiger an den erotischen Motiven Baudelaires abgearbeitet als Georges de Feure. Neben der Figur der Femme fatale verleihen in seinem Œuvre lesbische Liebespaare und weibliche Dämonen männlichen Ängsten und Fantasien der Zeit Ausdruck. Von den zahlreichen Auseinandersetzungen des Künstlers mit den Fleurs du Mal ist das 1895 im Salon der Société nationale des Beaux-Arts ausgestellte Gemälde La Voix du Mal eine der bekanntesten.14 Im Vordergrund des Bildes sitzt eine von emporragenden Blumenstängeln flankierte Frau gedankenverloren an ihrem Schreibtisch. Ihr linker Arm ruht auf einem Kissen, auf dem sie einen Teil ihres Goldschmucks abgelegt hat. Die Ringe und Armreife, aber vor allem das Gesicht und die erhobene Hand der Dargestellten werden durch die Lichtsetzung hervorgehoben. Ein Tintenfass, Feder und Papier lassen einen im Entstehen begriffenen Text assoziieren. Offen bleibt, ob wir Zeuge einer unvermittelten oder zielgerichteten Imagination werden. Großen Anteil an der ambivalenten Stimmung hat der Blick der Protagonistin, der sich in eine unbestimmte Ferne ebenso wie auf die Szene im Hintergrund richtet, wo sich zwei unbekleidete Frauen auf einer Lichtung einander zuwenden. Der reduzierte, die Struktur des Holzes einbeziehende Farbauftrag trägt dazu bei, die Szene als Fantasiekonstrukt erscheinen zu lassen. Während die auf dem Rücken liegende Frau, die potenziell mit der Protagonistin des Bildes identifiziert werden kann, ihr Gesicht und ihr Geschlecht verdeckt, zeichnet sich ihr offensiveres Gegenüber durch eine dunklere Tonalität der Haut, rotes Haar und die Andeutung zweier Hörner aus.15 Mit vorgehaltener Hand und der verführerischen
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