Leseprobe

Blumen des Grauens »Also, was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat.« Mit diesen Worten, öffentlich ausgesprochen auf einer Pressekonferenz in Hamburg, nur wenige Tage nach dem Anschlag auf die New Yorker Twin Towers am 11. September 2001, löste der Komponist Karlheinz Stockhausen einen internationalen Skandal aus. Das stundenlange Zeigen der entsetzlichen Szenen auf sämtlichen Fernsehkanälen wurde nicht diskutiert. Die Faszination durch die Ästhetik des Schreckens war keineswegs neu – ebensowenig wie der Umstand, dass es sich nicht um fiktionale Horrorfilme handelte, sondern um Abbilder der Realität. Bereits in den 1950er Jahren hielt die Ästhetisierung der Atombombe Einzug in die amerikanische Populärkultur. Als hätten die Atombombenabwürfe von 1945 in Hiroshima und Nagasaki niemandem wirklich geschadet, wurden Schönheitsköniginnen mit dem Titel »Miss Big Bang« oder »Miss A-Bomb« gewählt, Sticker, Plakate oder Tätowierungen von auf Atombomben reitenden Pin-up-Girls entworfen und entsprechende Popsongs geschrieben. Selbst ein Badeanzug wurde nach dem Atoll getauft, auf dem zahlreiche Kernwaffentests stattgefunden hatten: der bis heute beliebte Bikini. Inzwischen sind es die prächtigen, in allen Farben erblühenden Corona-Viren, die mithilfe künstlicher Intelligenz auf das Schönste vor Augen führen, was unser Leben zu bedrohen vermag, ohne wirklich zu schrecken. Während der von Fatos¸ · Irwen inszenierte Erdhaufen mit vertrockneten Baumwollpflanzen, um deren Köpfe sich Haare winden (Harvest of Time, 2023), einen geradezu existenziellen Schrecken hervorzurufen vermag. | KyZ

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