157 Als Blume ist die Narzisse natürlich unschuldig, denn eine Pflanze steht ganz diesseits von Gut und Böse. Aber schon ihr Name, durch den sie in den Bereich menschlicher Kultur gezogen ist, wirft erste Schatten auf diese Unschuld: Zwar deutet er nur auf ihren betörenden Geruch (die Bedeutung des griechischen nárkē – »Lähmung, Schläfrigkeit« – ist durch das Wort »Narkose« auch heute noch jedem geläufig), aber er macht zugleich auch verständlich, warum die Narzisse im Totenkult eine Rolle spielte. Auf solche Zusammenhänge deutet immerhin ein beiläufiger Hinweis des Reiseschriftstellers Pausanias (2. Jh. u. Z.) auf den vor-homerischen Dichter Pamphos (also vor dem 8. Jh. v. u. Z.!), der wusste, dass Persephone in die Unterwelt entführt wurde, als sie dabei war, Narzissen (und nicht etwa Veilchen) zu pflücken. Und als Gegenstand eines eigenen Mythos gar offenbart sich ein ganzer Komplex von Liebe, Schuld und Tod, der die Narzisse (und ihren betörenden Duft) schon früh zu einem Symbol der Kunst überhaupt machte – und sie als solches eben nicht nur als harmlose »Dichternarzisse«, sondern auch als »böse Blume« erscheinen lässt. Doch der Reihe nach: Der Mythos ist uns ausschließlich in der hochliterarischen Gestalt überliefert, die Ovid dem Stoff gegeben hat (Metamorphosen, Buch III, Vers 339–510): Der schöne Jüngling Narziss, Sohn der (»lilienäugigen«) Nymphe Liriope und des Flussgottes Kephissos, verschmäht nicht nur seine zahlreichen Verehrer (und -innen), sondern auch die Nymphe Echo. Die Zurückgewiesene verzehrt sich vor Gram, sie vertrocknet. Ihre Knochen werden zu Steinen, nur ihre körperlose Stimme bleibt. Umgekehrt ergeht es Narziss: Dem Fluch eines schon früher abgewiesenen Liebhabers entsprechend, verliebt er sich an einer lauteren Quelle im Wald in sein eigenes Spiegelbild. Doch der Versuch, das Bild zu ergreifen oder zu küssen, muss misslingen. So verzehrt auch er sich und stirbt – wie es der Seher Teiresias vorausgesagt hatte – in dem Moment, da er erkennt, dass er selbst es ist, den er im Wasser sieht – und trotzdem nicht von diesem imaginären Geliebten lassen kann. Er »zerfließt« förmlich in dem von seinen Tränen bewegten Wasserspiegel. Es ist Echo, die die letzten Worte des Sterbenden wiederholt und ihm so ein Gespräch mit dem Bild vorgaukelt. Als man ihn beerdigen will, ist der Körper verschwunden, und an seiner Stelle finden die Waldnymphen die in Schönheit erstrahlende (und duftende) Blume, die bis heute an ihren natürlichen Standorten in der Nähe von ruhig fließenden Gewässern sich ihrem Spiegelbild entgegenneigt. Narzisse (links), in: Otto Brunfels: Herbarum vivae eikones, Straßburg, 1530–1536 Holzschnitt von Hans Weiditz
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