Leseprobe

158 Was auch immer Ovid mit der Narziss-Episode sagen wollte (geht es wirklich nur um die Verwechslung des grammatischen Aktivums und Passivums?)1 – in den späteren christlich formatierten Versionen des Mythos, die sich seit dem 13. Jahrhundert häufen (vom Roman de la Rose um 1200 über den Ovide moralisé um 1300 bis hin zum Roman de la Rose moralisé und Le Jardin de Plaisance et Fleures de Rhétorique (!) um 1500), erscheint das Bild des in frevelhafter Selbstliebe befangenen Jünglings stark vereindeutigt: Der amor sui ist dem amor dei intellectualis diametral entgegengesetzt und gilt infolgedessen als Todsünde. Also ist der eigentliche Erfinder der »bösen Blume« das christliche Mittelalter. Bildliche Darstellungen der Narzisse findet man auch wegen dieser »Stigmatisierung« erst spät und zunächst nur in den moralisch wertfreien Kräuterbüchern. Wenn sie dann aber einmal bildwürdig geworden ist, dann eignet der Narzisse (die eindeutig niemals christologische oder marianische Bedeutung haben kann) immer jene charakteristische Ambivalenz barocker Bildlichkeit, die konstitutiv zwischen Sinnenlust und religiöser Weltverachtung changiert. Jan Brueghel d. Ä. etwa zeigt die Narzisse inmitten seines großen Blumenstilllebens (Version Mailand, 1606). Das Ensemble ist als Allegorie der Terra aufzufassen. Die Schönheit der irdischen Dinge wird zwar gefeiert (und ist als preisendes Gleichnis auf die territoriale Mächtigkeit des fürstlichen Empfängers gemünzt), aber nicht ohne hintersinnige Andeutungen auf Vergänglichkeit, Tod und Auferstehung der Seele (Schmetterling, Muschel). Entsprechend verhält es sich mit den Darstellungen des Narziss-Mythos: Caravaggio schildert zwar eindeutig den eitlen Jüngling, erkennbar an der bizarr geblähten Kleidung. Zugleich verleiht die Komposition dem Motiv aber eine sinistre Monumentalität, die den Betrachter unweigerlich in ihren Bann zieht und ihm das distanzierende Etikett »eitel!« gewissermaßen im Halse ersterben 1 So der Romanist Albert A. Gier, der hierzu (ohne nähere Quellenangabe) den klassischen Philologen Heinrich Dörrie (1911–1983) zitiert (Dörrie: »Narziß verwechselt Aktiv und Passiv«). A Gier: Rezension von: Ursula und Rebekka Orlowsky: Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse, München 1992. In: Mediävistik 7 (1994), S. 283–284. JAN BRUEGHEL D. Ä. Blumenstrauß · 1606 Pinacoteca Ambrosiana, Mailand

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