160 NICOLAS POUSSIN Das Reich der Flora · 1631 Staatliche Kunstsammlungen Dresden lässt. Poussin führt in seinem Reich der Flora eine ganze Reihe von Blumen-Mythen zusammen. Neben Narziss stürzt sich Ajax aus Verzweiflung über die ihm vorenthaltenen Waffen des Achill ins Schwert (aus seinem Blut entsteht eine Blume; heute heißt die wundheilende Schafgarbe zwar nicht nach Ajax, aber nach Achilles). Auf der anderen Seite des Gemäldes sind versammelt: Hyacinthus (Liebling des Apoll, starb durch dessen unglücklichen Diskuswurf, aus seinem Blut entstand die Hyazinthe), Adonis (Geliebter der Venus, von einem Eber getötet; aus seinem Blut entstand das Adonis-Röslein) und Crocus mit der Nymphe Smilax (unglücklich Liebende, von den Göttern in Krokus und Winde verwandelt).2 Inmitten all dieser tragischen Gestalten tanzt Flora, die alte mittelitalische Göttin des Blühens der Pflanzen (und übrigens insbesondere des lebenswichtigen Getreides).3 Flora ist eine der großen Vegetationsgottheiten wie Demeter, Hades, Pluto, Adonis. Hier dämmert so etwas wie eine Ahnung von dem riesigen Umfang auf, den das Mythologem von der Göttin und ihrem Heros (Marija Gimbutas) in einer vor-griechischen, matriarchalen Kulturschicht gehabt haben musss. Der ganze Komplex der nach dem Winter-Tod wiederauflebenden Natur wird bei Poussin mythologisch gefasst. Gerade der Todesaspekt ist in dem Gemälde klar wie selten einmal präsent. Er drückt sich vor allem in der dramatisch abfallenden Sequenz aus, die von der stehenden Herme4 über den stürzenden Ajax zum kauernden Narziss reicht, die den heiteren Reigen um Flora herum anzutreiben scheint. 2 Alle Personen kommen in den Metamorphosen des Ovid vor, Flora in dessen Festkalender (Buch V). 3 Ovid setzt sie mit der griechischen »Charis« gleich – Hinweis auf die Schönheit der Blüten? 4 Die Herme meint wohl Priapus, denn dessen Fruchtbarkeit bringende Funktion ist im Reich der Flora schlechterdings unerlässlich.
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