161 Bis ins 19. Jahrhundert waren solche ambivalenten Narziss-Bilder eher die Ausnahme. Wie einsame Gipfel stehen die Werke Caravaggios und Poussins über dem Nebelmeer christlicher Konsens-Moral. Sie ergriffen intuitiv, was später die Psychoanalyse herausarbeiten würde und was ein wenig früher Dichter und Denker wie Baudelaire und Nietzsche ins Werk gesetzt haben. Gerade mit den Blumen des Bösen versuchte Baudelaire, die verteufelten Trieb-Gewächse der Seele gewissermaßen zu renaturalisieren (wenn so etwas möglich wäre). Denn natürlich kommt man nicht mehr ohne Weiteres in das Paradies vor der »Erkenntnis des Guten und des Bösen« zurück. Aber man kann, wie Nietzsche sagte, in ein »Jenseits« der gesellschaftlich sanktionierten Moral durchbrechen. Baudelaire geht es dabei weniger darum, die Gefährlichkeit der Triebe zu leugnen, sondern darum, das wuchernde Begehren trotzdem als den Stachel im (wissenschaftlich) gebändigten Fleisch anzuerkennen und (nicht ohne Verzweiflung) zu bezeugen. Nun spielt ausgerechnet die Eigenliebe keine explizite Rolle in Baudelaires Werk.5 Aber eine Generation später erkennt der siebenundzwanzigjährige André Gide in der Geschichte des Narziss die eigentliche Struktur des Symbols (Traité de Narcisse. Théorie du symbole, 1891). Er denkt die Narziss-Szene an der Quelle im Hain als Revindikation des verlorenen Paradieses durch den Dichter. Nach Gide verbleiben die kristallinen Wahrheiten hinter den fließenden Phänomenen. Sie sind es, die Narziss im Spiegel erblickt,6 und gerade nicht er selbst, sein Ego! Nur im »uneigennützigen Bezeugen« werden ihm die Phänomene zu Symbolen des Wahren. Gide statuiert: »Die einzige Aufgabe: zu manifestieren, die einzige Schuld: sich selbst zu bevorzugen.« Der Dichter »s’est volontierement et fatalement dévoué, jusque à la damnation, pour les autres«. Damit rückt ausgerechnet Narziss in die Erlöserposition Christi ein! Die solipsistische Selbstbespiegelung schlägt in der dichterisch »bezeugenden« (Selbstbe-)Schau um in die Opferung des Selbst. Von daher erklärt sich auch der Titel der Memoiren, Stirb und werde (1926), in denen Gide sich zu seiner Homosexualität bekennt. Auch hier fehlt übrigens nicht die Schilderung der Narzissen, die ihre Köpfe über die Wasser des Alzon bei Uzés neigen, wo Gide als Kind die Osterferien verbrachte. Sigmund Freud und in seiner Nachfolge Jacques Lacan transponierten diese symbolistischen Ahnungen in eine auf empirischer Beobachtung und sprachstrukturellen Konzepten basierende Theorie des Unbewussten, die bei Lacan zu den zwei zentralen Sätzen führte: »Das Ich ist ein anderer« und »Das Begehren ist strukturiert wie eine Sprache«. Verschiebung und Verdichtung (Metonymie und Metapher) sind die wesentlichen Vorgänge, mittels derer das Unbewusste und die verdrängten Triebregungen sich in Traum, Fehlleistung, Witz etc. Bahn brechen. Verblüffend ist nun die Rolle, die Narziss in diesem System zukommt. Lacan beschreibt, wie sich das kleinkindliche Ich, das ursprünglich nicht zwischen Ich und Anderem unterscheidet, im »Spiegelstadium« beginnt, sein imaginäres, »narzisstisches« Ego (»moi«) als imaginäres Ich überhaupt zu konstituieren. Im Spiegelbild – und nur da – ist es als Ganzes antizipiert, bevor der Säugling (6.–13. Monat) körperlich voll funktionsfähig ist. Zugleich beginnt im Spiegelstadium die Ablösung eines Objektes des Begehrens außerhalb des Kindes, das aber zunächst von dem imaginären Ich verdeckt ist. Im Zuge der weiteren Entwicklung lernt das Kind, durch die Reihe der »narzisstischen Kränkungen« seine Libido immer deutlicher vom imaginären Ich weg auf ein reales Du hinzuordnen. Diese Ablösung entspricht nun ziemlich genau der Symbolstruktur, die Gide beschrieben hat. Das »wahre Ich«, bei Freud das »Es«, bei Lacan das immer exzentrisch im Unbewussten verbleibende Subjekt (»je«) artikuliert sich immer nur indirekt im Traum, im Lapsus, im neurotischen Symptom oder im Witz. So wie der Dichter durch das fluktuierende Bild der Erscheinungen hindurch das »wahre« Symbol erkennt, so ist es die Aufgabe des Menschen, die narzisstischen Besetzungen seiner Wunschobjekte als imaginäre zu durchschauen. Dabei geht es Lacan weniger darum, dass da, wo (wie Freud formulierte) das unbewusste Es waltet, das bewusste Über-Ich herrschen solle, sondern umgekehrt darum, gegen diesen narzisstischen Egozentrismus die Exzentrizität des wahren Selbst zu betonen und die Gefahr anzuerkennen, die darin liegt, den Ich-Zentrismus (cogito ergo sum) als narzisstisch zu relativieren. Diese Einsicht sollte auch die Kunst verändern. Anhand von zwei prominenten Beispielen wollen wir kurz umreißen, wie die Figur des Narziss hier zum Tragen kommt. 1937 reiste Salvador Dalí nach London, um Sigmund Freud seine »paranoisch-kritische Methode« zu erläutern – und zwar am Beispiel der Metamorphose des Narziss. Vor der Höhle der Nymphe Echo neigt sich Narziss zur Kephissos-Quelle. Nach rechts verschoben kehrt diese Figur wieder, allerdings verwandelt in das steinerne Monument einer Hand, die anstelle des Narziss-Kopfes ein Ei 5 Auf dem von ihm selbst konzipierten Frontispiz erscheinen unter einem Skelett als dem »Baum der Erkenntnis« die sieben christlichen Todsünden in Gestalt stacheliger, wild-exotischer Blumen: Neid, Trägheit, Wollust, Hochmut, Zorn, Völlerei und Geiz. Eine harmlose Narzisse ist nicht dabei. 6 Genauer: Im Wasser spiegelt sich der Baum der Erkenntnis (bei Gide »Ygdrasil«), der im Rücken des Narziss steht. Hier scheinen unter anderem auch Aspekte des mittelalterlichen Rosenromans wirksam zu sein, wo die Quelle des Kephissos eine ähnliche Rolle spielt.
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